Bangkok
Die kalte Nachtluft beißt mir in die Ohren. Erschaudernd ziehe ich den Parker fester um meinen frierenden Körper und schließe die Augen.
Heiße feuchte Luft erdrückt mich und Straßenlärm schlägt über mir ein.
Jeder Schritt ist wie durch Wasser zu waten. Ein Meer aus feuchter Wärme, Gerüchen und Lärm umgibt mich.
Stunden, die zu Tagen wurden, haben wir eingekeilt zwischen Fremden im Flugzeug verbracht. Doch jetzt gestikuliert ein aufgeregter, dünner, junger Mann in bunten Klamotten vor unseren Gesichtern herum. „Tuk Tuk?“ brüllt er uns gegen den Lärm der, hier so vollen, Welt entgegen.
Doch als er unseren Reiseetat erfährt, schüttelt er umdenkend den Kopf und stürzt mit einem eindeutigen Winken davon. Ratlos stolpern wir ihm nach.
Mein 90 Liter Rucksack will mich in den Boden drücken, doch meine Begeisterung für die Fremde hält ihn davon ab.
Plötzlich steht der bunte, junge Mann vor einem grauhaarigen, eine unglaublich tiefe Ruhe ausstrahlenden Herrn. Wie wir erfahren, ist dies also unser Portier ins Abenteuer. Der Tuk-Tuk-Fahrer für die Einheimischen. Er fährt uns, auch wenn wir eigentlich nur mit Neugier zahlen können.
Und plötzlich rauscht die Welt in Farben und Abgas an uns vorbei.
Unser ruhiger Tuk-Tuk-Fahrer drängelt sich in der sechsten Spur zwischen zwei Lastwagen durch, die die vierspurige Straße entlang rasen. Ich sehne mich plötzlich nach dem beißenden, so belebenden Geschmack des „Fischergeistes“ meiner Ostseetage. Und sehe mich schon den feinstoffbelasteten Boden küssen. Der Motor unter mir brummt wütend und das dreirädrige Gefährt macht einen Satz nach vorn. Da ist nichts, was mich von den erschreckend wirklichen Lastern links und rechts von uns trennt. Gerade noch rechtzeitig kann ich meinen Ellbogen ins Innere der winzigen Motorkutsche ziehen, als auch schon Räder, so groß wie ich, an meinem Ohr vorbei donnern.
Ich lache in die laute, stinkende, vor Leben strotzende Welt. Bangkok schlägt mir gefühlvoll ins Gesicht. Ich bin da. Im Leben!
Die Bahn hält quietschend auf vereisten Schienen und eine dunkle Masse trampelt über meine Füße. Ich öffne die Augen und „Berlin Calling“ flüstert mir ins Ohr.
Die kalte Nachtluft beißt mir in die Ohren. Erschaudernd ziehe ich den Parker fester um meinen frierenden Körper und schließe die Augen.
Heiße feuchte Luft erdrückt mich und Straßenlärm schlägt über mir ein.
Jeder Schritt ist wie durch Wasser zu waten. Ein Meer aus feuchter Wärme, Gerüchen und Lärm umgibt mich.
Stunden, die zu Tagen wurden, haben wir eingekeilt zwischen Fremden im Flugzeug verbracht. Doch jetzt gestikuliert ein aufgeregter, dünner, junger Mann in bunten Klamotten vor unseren Gesichtern herum. „Tuk Tuk?“ brüllt er uns gegen den Lärm der, hier so vollen, Welt entgegen.
Doch als er unseren Reiseetat erfährt, schüttelt er umdenkend den Kopf und stürzt mit einem eindeutigen Winken davon. Ratlos stolpern wir ihm nach.
Mein 90 Liter Rucksack will mich in den Boden drücken, doch meine Begeisterung für die Fremde hält ihn davon ab.
Plötzlich steht der bunte, junge Mann vor einem grauhaarigen, eine unglaublich tiefe Ruhe ausstrahlenden Herrn. Wie wir erfahren, ist dies also unser Portier ins Abenteuer. Der Tuk-Tuk-Fahrer für die Einheimischen. Er fährt uns, auch wenn wir eigentlich nur mit Neugier zahlen können.
Und plötzlich rauscht die Welt in Farben und Abgas an uns vorbei.
Unser ruhiger Tuk-Tuk-Fahrer drängelt sich in der sechsten Spur zwischen zwei Lastwagen durch, die die vierspurige Straße entlang rasen. Ich sehne mich plötzlich nach dem beißenden, so belebenden Geschmack des „Fischergeistes“ meiner Ostseetage. Und sehe mich schon den feinstoffbelasteten Boden küssen. Der Motor unter mir brummt wütend und das dreirädrige Gefährt macht einen Satz nach vorn. Da ist nichts, was mich von den erschreckend wirklichen Lastern links und rechts von uns trennt. Gerade noch rechtzeitig kann ich meinen Ellbogen ins Innere der winzigen Motorkutsche ziehen, als auch schon Räder, so groß wie ich, an meinem Ohr vorbei donnern.
Ich lache in die laute, stinkende, vor Leben strotzende Welt. Bangkok schlägt mir gefühlvoll ins Gesicht. Ich bin da. Im Leben!
Die Bahn hält quietschend auf vereisten Schienen und eine dunkle Masse trampelt über meine Füße. Ich öffne die Augen und „Berlin Calling“ flüstert mir ins Ohr.
Das Stundenglas
tic – toc
ich schaue auf die Uhr
10:42
10:43
10:44
tic – toc
ich schaue auf die Uhr
15:11
18:23
23:55
tic – toc
die Zeit vergeht
mal vergeht sie schnell,
mal langsam
doch wieso?
Wieso verstreichen die schönsten Momente des Lebens
diese wunderschönen Momente
wie die besten Menschen zu treffen,
mit ihnen die besten,
die tiefgründigsten Unterhaltungen zu führen,
wieso verstreichen diese Momente
nur so… schnell,
während die anderen,
die nur Augenblicke sein sollten,
nur ein Niederschlagen und Wiederöffnen des Augenlides,
so lange andauern?
Wieso ist das so?
tic – toc
ich schaue auf die Uhr
10:42
10:43
10:44
tic – toc
ich schaue auf die Uhr
15:11
18:23
23:55
tic – toc
die Zeit vergeht
mal vergeht sie schnell,
mal langsam
doch wieso?
Wieso verstreichen die schönsten Momente des Lebens
diese wunderschönen Momente
wie die besten Menschen zu treffen,
mit ihnen die besten,
die tiefgründigsten Unterhaltungen zu führen,
wieso verstreichen diese Momente
nur so… schnell,
während die anderen,
die nur Augenblicke sein sollten,
nur ein Niederschlagen und Wiederöffnen des Augenlides,
so lange andauern?
Wieso ist das so?
Zeit sparen
Ich schaue auf meine Uhr. Zwei Stunden. Zwei Stunden, dann werde ich wieder in meinem geliebten Berlin sein. Es ist kurz vor acht und ich bin schon seit sechs Uhr unterwegs. Ich bin müde, aber ich kann nicht schlafen beziehungsweise wollte ich nicht schlafen. Zugfahrten versuche ich immer sinnvoll zu nutzen. Obwohl der Weg von einem Punkt zum anderen eigentlich keine ungenutzte Zeit ist. Ich fahre ja nicht sinnlos in der Gegend herum.
Während der Zug mich innerhalb von vier Stunden von Frankfurt am Main nach Berlin kutschiert, schreibe ich diesen Text, gucke zwischendurch aus dem Fenster und sehe die Welt rasend schnell an mir vorbeirauschen. Außerdem blicke ich ab und zu auf mein Handy. Mal ist der Empfang ganz gut, mal weniger. Es ist doch verrückt, dass so ein kleines Gerät unser ständiger Begleiter ist. Man möchte ja fast meinen, es würde gar nicht mehr ohne gehen.
Viele von den anderen Passagieren sind am Handy oder am Laptop. Es gibt so viele Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Wir können gleichzeitig einen Film gucken, Musik hören und mit meinen Freunden und meiner Familie kommunizieren – auf mindestens vier verschiedenen Wegen.
Trotz der vielen Möglichkeiten möchte ich nur eine Sache machen. Nur schreiben. Mich nur auf eine Sache konzentrieren. Nicht auf das Handy gucken, keine E-Mails checken und keine Online-Shops durchforsten. Doch immer wieder greife ich nach meinem Handy und sehe die ungelesene Nachricht meiner Schwester, die ich gerade gar nicht beantworten möchte, weil ich mich ja eigentlich nur auf eine Sache konzentrieren will.
Die Technik nimmt uns viel Arbeit ab. Viele Dinge sind inzwischen mit zwei drei Klicks erledigt und wir haben Zeit für wichtige Sachen. Wichtige Sachen, wie sinnlos auf das Handy zu gucken.
Ich schaue auf meine Uhr. Zwei Stunden. Zwei Stunden, dann werde ich wieder in meinem geliebten Berlin sein. Es ist kurz vor acht und ich bin schon seit sechs Uhr unterwegs. Ich bin müde, aber ich kann nicht schlafen beziehungsweise wollte ich nicht schlafen. Zugfahrten versuche ich immer sinnvoll zu nutzen. Obwohl der Weg von einem Punkt zum anderen eigentlich keine ungenutzte Zeit ist. Ich fahre ja nicht sinnlos in der Gegend herum.
Während der Zug mich innerhalb von vier Stunden von Frankfurt am Main nach Berlin kutschiert, schreibe ich diesen Text, gucke zwischendurch aus dem Fenster und sehe die Welt rasend schnell an mir vorbeirauschen. Außerdem blicke ich ab und zu auf mein Handy. Mal ist der Empfang ganz gut, mal weniger. Es ist doch verrückt, dass so ein kleines Gerät unser ständiger Begleiter ist. Man möchte ja fast meinen, es würde gar nicht mehr ohne gehen.
Viele von den anderen Passagieren sind am Handy oder am Laptop. Es gibt so viele Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Wir können gleichzeitig einen Film gucken, Musik hören und mit meinen Freunden und meiner Familie kommunizieren – auf mindestens vier verschiedenen Wegen.
Trotz der vielen Möglichkeiten möchte ich nur eine Sache machen. Nur schreiben. Mich nur auf eine Sache konzentrieren. Nicht auf das Handy gucken, keine E-Mails checken und keine Online-Shops durchforsten. Doch immer wieder greife ich nach meinem Handy und sehe die ungelesene Nachricht meiner Schwester, die ich gerade gar nicht beantworten möchte, weil ich mich ja eigentlich nur auf eine Sache konzentrieren will.
Die Technik nimmt uns viel Arbeit ab. Viele Dinge sind inzwischen mit zwei drei Klicks erledigt und wir haben Zeit für wichtige Sachen. Wichtige Sachen, wie sinnlos auf das Handy zu gucken.
Sommernacht
Der frische Wind bewegt das Blatt,
die Sommerlinde wispert,
leise schwebt’s zur Erde herab.
Der Uhren Zeiger auf der zehn,
tickend hängt sie von der Wand,
des Sommers Ende abzusehn.
Schon jagen Stürme übers Land,
mit sich tragend kaltes Nass,
gekleidet in ihr Herbstgewand.
Sie trüben das einst grüne Gras,
ziehen Zeiger weiter vor,
auf Jahreszeiten Stundenglas.
Der Winter vor dem goldnen Tor,
mit sich bringend Duft nach Schnee,
rückt er unhaltsam Wandel vor.
Das weiße Fest in frostig Weh,
Liebe wärmt der Herzen Klang;
Sieh Spuren auf gefrornem See.
Fröhlich tönt zaubernder Gesang,
warmer gegen kalter Hauch;
sie träumen von dem Neuanfang.
Des Jahres fester starker Lauf
lässt Uhren stetig ticken,
der Zeiger läuft auf elf herauf.
Mag noch Kälte Wangen zwicken,
des Südwinds laue Brise
lässt Frost in Schlaf versinken.
Tau entsteht nun auf der Wiese,
alles strahlt in frischem Glanz,
neu im grünen Paradiese.
Es blühet auf der Blumenkranz,
hell ertönt der Leier Lied,
das Dorf erscheint zum Maientanz.
Erinnernd nur der Zeiger blieb,
der trotzdem rücket schnell voran,
mahnt vor dem nächsten Unterschied.
Nach Frühlingszeit die Hitze kam,
des hohen Sommers Botschaft bracht,
sowie den nächsten Jahresplan.
Nun ist es wieder Sommernacht,
wo ein goldnes Blatte fällt;
Haben wir Vergangnem gedacht?
Der Zeiger zeigt schon lang nicht elf,
verstummt der Linde Wispern,
die Uhren sagen: Fünf vor zwölf!
Der frische Wind bewegt das Blatt,
die Sommerlinde wispert,
leise schwebt’s zur Erde herab.
Der Uhren Zeiger auf der zehn,
tickend hängt sie von der Wand,
des Sommers Ende abzusehn.
Schon jagen Stürme übers Land,
mit sich tragend kaltes Nass,
gekleidet in ihr Herbstgewand.
Sie trüben das einst grüne Gras,
ziehen Zeiger weiter vor,
auf Jahreszeiten Stundenglas.
Der Winter vor dem goldnen Tor,
mit sich bringend Duft nach Schnee,
rückt er unhaltsam Wandel vor.
Das weiße Fest in frostig Weh,
Liebe wärmt der Herzen Klang;
Sieh Spuren auf gefrornem See.
Fröhlich tönt zaubernder Gesang,
warmer gegen kalter Hauch;
sie träumen von dem Neuanfang.
Des Jahres fester starker Lauf
lässt Uhren stetig ticken,
der Zeiger läuft auf elf herauf.
Mag noch Kälte Wangen zwicken,
des Südwinds laue Brise
lässt Frost in Schlaf versinken.
Tau entsteht nun auf der Wiese,
alles strahlt in frischem Glanz,
neu im grünen Paradiese.
Es blühet auf der Blumenkranz,
hell ertönt der Leier Lied,
das Dorf erscheint zum Maientanz.
Erinnernd nur der Zeiger blieb,
der trotzdem rücket schnell voran,
mahnt vor dem nächsten Unterschied.
Nach Frühlingszeit die Hitze kam,
des hohen Sommers Botschaft bracht,
sowie den nächsten Jahresplan.
Nun ist es wieder Sommernacht,
wo ein goldnes Blatte fällt;
Haben wir Vergangnem gedacht?
Der Zeiger zeigt schon lang nicht elf,
verstummt der Linde Wispern,
die Uhren sagen: Fünf vor zwölf!
Ressourcenmanagement
„Zeit und Aufmerksamkeit sind die wichtigsten Ressourcen des Literaturwissenschaftlers.“ Dies ist eine Art Mantra von einem meiner Professoren. Nach einem Jahr im Studium kann ich bestätigen, dass Zeit ein wertvolles Gut ist (nicht, dass mir das nicht schon von vorher klar gewesen wäre – aber jetzt erst recht!). Aufmerksamkeit ist fast noch wertvoller. Wer schon mal das zweifelhafte Vergnügen hatte, mehrere wissenschaftliche Texte hintereinander lesen zu dürfen, weiß, dass Aufmerksamkeit aufgrund ihrer Flüchtigkeit ein fieses Arschloch ist. Denn wenn wir von unseren Leselisten mit Lacan oder Bourdieu gefoltert werden, ist die Versuchung, die Aufmerksamkeit stattdessen auf diesen Fussel auf dem Tisch oder auch diesen Fusel auf dem Tisch (je nach Verfügbarkeit) zu lenken, ziemlich groß.
Aber Zeit und Aufmerksamkeit sind nicht nur für Literaturwissenschaftler_innen sehr relevante Ressourcen, sondern für so ziemlich jeden Menschen. Bei allem, was unsere Gesellschaft an Möglichkeiten, Konventionen, Reizen, Verantwortung, Zwängen und mal mehr oder mal weniger berechtigten Erwartungen auffährt, um uns langsam aber sicher zu überfordern, fällt es mir und auch anderen aus meinem Umfeld nicht selten recht schwer, Zeit und Aufmerksamkeit gewissen- und/oder vorteilhaft zu verteilen. In den letzten Jahren glaube ich zunehmend, dass ich den vielen „Du-solltest“s, die mir nicht gerade selten über den Weg laufen, unmöglich gerecht werden kann.
Mensch soll heutzutage nämlich eine ganze Menge. So sollen wir unbedingt vierzig Stunden in der Woche arbeiten. Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass ich das schon hinter mir habe. Jede Person, der es genauso geht, weiß, dass wir dabei schon eine Menge Zeit und Aufmerksamkeit auf der Arbeit lassen. Zudem sollen wir Sport treiben und uns gesund ernähren; am besten täglich frisch einkaufen und kochen. Zu einer gesunden Lebensführung gehören selbstverständlich ausreichend Schlaf – optimalerweise acht Stunden jede Nacht. Aber das Leben sollte nicht nur aus Arbeit und Schlafen bestehen: Hobbys sind demnach unerlässlich. Freundschaften zu pflegen ist ausgesprochen wichtig. Und die Familie ebenfalls. Das beginnt mit dem Führen einer guten, gesunden Partnerschaft. Die reinste Kinderei, wirklich. Apropos Kinderei: Wir sollten uns um die eigenen Kinder kümmern – am besten zwei bis fünf; der Staat braucht Steuerzahler_innen. Wenn du die Dreißig erreicht hast und noch keine Winzlinge mit fünfzig Prozent deines Erbgutes über sonnenbeschienene Wiesen springen, darfst du dich schon mal auf abschätzige Blicke und bohrende Nachfragen bezüglich deiner Familienplanung einstellen. Aber die ältere Generation braucht ebenfalls früher oder später Pflege und Zuwendung – Eltern und Großeltern dürfen nicht vernachlässigt werden. Achja: Wir wollen natürlich nicht, dass irgendwann das Gesundheitsamt wegen des üblen Geruchs vor der Tür steht, deshalb sollten wir auch unseren Haushalt führen. Am besten so, dass wir jederzeit Besuch empfangen können und es aussieht, als wohnten wir in einem Museum. Versteht sich von selbst. Zudem sollten wir auch am kulturellen Leben teilhaben. Das heißt: Bücher lesen, im Kino Filme schauen, ins Theater gehen. Netflixserien sind unter Umständen auch okay, aber nur bis zu einem gewissen Grad und nur in der Peergroup. Neben der körperlichen Gesundheit (aka „gesunde Lebensführung“ und Wahrnehmen sämtlicher Vorsorgeuntersuchungen) ist auch die geistige Gesundheit zu hegen und zu pflegen (vielleicht wegen der vielen anderen „Du-solltest“s, die möglicherweise etwas Stress induzieren). Da gibt es verschiedene Möglichkeiten: Therapie, Meditation, das Fernsehprogramm, „brutale Killerspiele“, den Konsum von Rauschmitteln, Religion oder regelmäßiges Kampfficken im Darkroom. Einige Leute schwören auf bestimmte Kombination aus den genannten Methoden. Außerdem sollten wir unser ganzes Leben über lernen und uns fortbilden. Volkshochschulkurse belegen, Kurse für die berufliche Weiterbildung besuchen usw. Achja, ganz wichtig: Ein Ehrenamt sollten wir auch noch innehaben. Wir alle können schließen etwas zurückgeben.
Wenn wir all das hinbekommen, werden wir den grundlegenden Anforderungen der Gesellschaft gerecht. Hoffentlich.
Mir stellen sich da allerdings ein paar Fragen: Wann? Wo im Namen des Chronos soll ich denn diese ganzen „Du-solltest“s in meinem Alltag unterbringen? Wie soll das eine Person hinbekommen, die vierzig Stunden arbeitet? Acht Stunden Arbeit, täglich je eine Stunde Arbeitsweg hin und zurück und acht Stunden Schlaf. Damit sind noch sechs Stunden vom Tag übrig. Sechs Stunden, in denen wir meist extrem erledigt sind. In diesen sechs Stunden war ich als Arbeitnehmer so erledigt, dass ich selbst dann auf dem Sofa eingepennt wäre, wenn meine verfilmte Lebensgeschichte im Fernsehen gelaufen wäre, in welcher ich von Chris Evans oder Donald Trump oder Mädchen Amick gespielt werde.
Sechs Stunden für Partnerschaft, Familie, Freunde, Hobbys, Haushalt, Sport, Frisches einkaufen und kochen, Weiterbildung, kulturelles Leben, geistige Gesundheit und den ganzen anderen „Du-solltest“s. Na, viel Glück bei dem Versuch, DAS alles zu managen.
Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, ist ein (in den Augen von Teilen der Gesellschaft) defizitäres Leben zu führen, indem ich einige „Du-solltest“s zu ignorieren versuche. Aktuell ignoriere ich persönlich Kinder (ich gehe auf die Dreißig zu und bekomme die ersten Fragen um die Ohren geschleudert), gesundes Essen, Sport und partiell den Haushalt. Zu pflegen ist in meiner Familie glücklicherweise gerade niemand. Auch das mit dem Ehrenamt lasse ich, obwohl jetzt dafür eine gute Zeit wäre. Ich habe nämlich den Luxus, Studierender zu sein und nicht nebenbei arbeiten zu müssen. Vielleicht werde ich Lesepate, darüber denke ich schon länger nach.
Dass ich ein „defizitäres“ Leben führe, bedeutet zwar, dass ich mir ständig mit Aussagen wie „Was, du machst keinen Sport? Aber das ist so wichtig!“, „Wenn du nicht gesund kochst, verringert das deine Lebenszeit.“ oder „Also es wäre ja schon schön, wenn du etwas mehr aufgeräumt hättest, bevor ich zu Besuch komme.“ anhören darf, aber eine andere Wahl scheine ich nicht zu haben. Denn mein Leben ist, so wie ich es aktuell führe, auch schon voll genug. Natürlich kenne ich auch ein oder zwei Menschen, die (zumindest scheinbar) allen „Du-solltest“s nachkommen. Aber die trinken sehr viel Kaffee und haben einen Pakt mit dem Teufel. Und ich hasse Kaffee.
„Zeit und Aufmerksamkeit sind die wichtigsten Ressourcen des Literaturwissenschaftlers.“ Dies ist eine Art Mantra von einem meiner Professoren. Nach einem Jahr im Studium kann ich bestätigen, dass Zeit ein wertvolles Gut ist (nicht, dass mir das nicht schon von vorher klar gewesen wäre – aber jetzt erst recht!). Aufmerksamkeit ist fast noch wertvoller. Wer schon mal das zweifelhafte Vergnügen hatte, mehrere wissenschaftliche Texte hintereinander lesen zu dürfen, weiß, dass Aufmerksamkeit aufgrund ihrer Flüchtigkeit ein fieses Arschloch ist. Denn wenn wir von unseren Leselisten mit Lacan oder Bourdieu gefoltert werden, ist die Versuchung, die Aufmerksamkeit stattdessen auf diesen Fussel auf dem Tisch oder auch diesen Fusel auf dem Tisch (je nach Verfügbarkeit) zu lenken, ziemlich groß.
Aber Zeit und Aufmerksamkeit sind nicht nur für Literaturwissenschaftler_innen sehr relevante Ressourcen, sondern für so ziemlich jeden Menschen. Bei allem, was unsere Gesellschaft an Möglichkeiten, Konventionen, Reizen, Verantwortung, Zwängen und mal mehr oder mal weniger berechtigten Erwartungen auffährt, um uns langsam aber sicher zu überfordern, fällt es mir und auch anderen aus meinem Umfeld nicht selten recht schwer, Zeit und Aufmerksamkeit gewissen- und/oder vorteilhaft zu verteilen. In den letzten Jahren glaube ich zunehmend, dass ich den vielen „Du-solltest“s, die mir nicht gerade selten über den Weg laufen, unmöglich gerecht werden kann.
Mensch soll heutzutage nämlich eine ganze Menge. So sollen wir unbedingt vierzig Stunden in der Woche arbeiten. Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass ich das schon hinter mir habe. Jede Person, der es genauso geht, weiß, dass wir dabei schon eine Menge Zeit und Aufmerksamkeit auf der Arbeit lassen. Zudem sollen wir Sport treiben und uns gesund ernähren; am besten täglich frisch einkaufen und kochen. Zu einer gesunden Lebensführung gehören selbstverständlich ausreichend Schlaf – optimalerweise acht Stunden jede Nacht. Aber das Leben sollte nicht nur aus Arbeit und Schlafen bestehen: Hobbys sind demnach unerlässlich. Freundschaften zu pflegen ist ausgesprochen wichtig. Und die Familie ebenfalls. Das beginnt mit dem Führen einer guten, gesunden Partnerschaft. Die reinste Kinderei, wirklich. Apropos Kinderei: Wir sollten uns um die eigenen Kinder kümmern – am besten zwei bis fünf; der Staat braucht Steuerzahler_innen. Wenn du die Dreißig erreicht hast und noch keine Winzlinge mit fünfzig Prozent deines Erbgutes über sonnenbeschienene Wiesen springen, darfst du dich schon mal auf abschätzige Blicke und bohrende Nachfragen bezüglich deiner Familienplanung einstellen. Aber die ältere Generation braucht ebenfalls früher oder später Pflege und Zuwendung – Eltern und Großeltern dürfen nicht vernachlässigt werden. Achja: Wir wollen natürlich nicht, dass irgendwann das Gesundheitsamt wegen des üblen Geruchs vor der Tür steht, deshalb sollten wir auch unseren Haushalt führen. Am besten so, dass wir jederzeit Besuch empfangen können und es aussieht, als wohnten wir in einem Museum. Versteht sich von selbst. Zudem sollten wir auch am kulturellen Leben teilhaben. Das heißt: Bücher lesen, im Kino Filme schauen, ins Theater gehen. Netflixserien sind unter Umständen auch okay, aber nur bis zu einem gewissen Grad und nur in der Peergroup. Neben der körperlichen Gesundheit (aka „gesunde Lebensführung“ und Wahrnehmen sämtlicher Vorsorgeuntersuchungen) ist auch die geistige Gesundheit zu hegen und zu pflegen (vielleicht wegen der vielen anderen „Du-solltest“s, die möglicherweise etwas Stress induzieren). Da gibt es verschiedene Möglichkeiten: Therapie, Meditation, das Fernsehprogramm, „brutale Killerspiele“, den Konsum von Rauschmitteln, Religion oder regelmäßiges Kampfficken im Darkroom. Einige Leute schwören auf bestimmte Kombination aus den genannten Methoden. Außerdem sollten wir unser ganzes Leben über lernen und uns fortbilden. Volkshochschulkurse belegen, Kurse für die berufliche Weiterbildung besuchen usw. Achja, ganz wichtig: Ein Ehrenamt sollten wir auch noch innehaben. Wir alle können schließen etwas zurückgeben.
Wenn wir all das hinbekommen, werden wir den grundlegenden Anforderungen der Gesellschaft gerecht. Hoffentlich.
Mir stellen sich da allerdings ein paar Fragen: Wann? Wo im Namen des Chronos soll ich denn diese ganzen „Du-solltest“s in meinem Alltag unterbringen? Wie soll das eine Person hinbekommen, die vierzig Stunden arbeitet? Acht Stunden Arbeit, täglich je eine Stunde Arbeitsweg hin und zurück und acht Stunden Schlaf. Damit sind noch sechs Stunden vom Tag übrig. Sechs Stunden, in denen wir meist extrem erledigt sind. In diesen sechs Stunden war ich als Arbeitnehmer so erledigt, dass ich selbst dann auf dem Sofa eingepennt wäre, wenn meine verfilmte Lebensgeschichte im Fernsehen gelaufen wäre, in welcher ich von Chris Evans oder Donald Trump oder Mädchen Amick gespielt werde.
Sechs Stunden für Partnerschaft, Familie, Freunde, Hobbys, Haushalt, Sport, Frisches einkaufen und kochen, Weiterbildung, kulturelles Leben, geistige Gesundheit und den ganzen anderen „Du-solltest“s. Na, viel Glück bei dem Versuch, DAS alles zu managen.
Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, ist ein (in den Augen von Teilen der Gesellschaft) defizitäres Leben zu führen, indem ich einige „Du-solltest“s zu ignorieren versuche. Aktuell ignoriere ich persönlich Kinder (ich gehe auf die Dreißig zu und bekomme die ersten Fragen um die Ohren geschleudert), gesundes Essen, Sport und partiell den Haushalt. Zu pflegen ist in meiner Familie glücklicherweise gerade niemand. Auch das mit dem Ehrenamt lasse ich, obwohl jetzt dafür eine gute Zeit wäre. Ich habe nämlich den Luxus, Studierender zu sein und nicht nebenbei arbeiten zu müssen. Vielleicht werde ich Lesepate, darüber denke ich schon länger nach.
Dass ich ein „defizitäres“ Leben führe, bedeutet zwar, dass ich mir ständig mit Aussagen wie „Was, du machst keinen Sport? Aber das ist so wichtig!“, „Wenn du nicht gesund kochst, verringert das deine Lebenszeit.“ oder „Also es wäre ja schon schön, wenn du etwas mehr aufgeräumt hättest, bevor ich zu Besuch komme.“ anhören darf, aber eine andere Wahl scheine ich nicht zu haben. Denn mein Leben ist, so wie ich es aktuell führe, auch schon voll genug. Natürlich kenne ich auch ein oder zwei Menschen, die (zumindest scheinbar) allen „Du-solltest“s nachkommen. Aber die trinken sehr viel Kaffee und haben einen Pakt mit dem Teufel. Und ich hasse Kaffee.
1.Pers.Pl. / Synthesis
Von oben nach unten
Ganz genau die Linie runter
„Ist das auf Dauer nicht langweilig?“
Zick-Zack-Kurs durch bunte Lichter im Dunkeln
Stroboskop setzt Mid-Life-Crisis in Szene
„Ist das auf Dauer nicht anstrengend?“
Uns trennen 24 Jahre.
Existenz ist endlich, ihre Krisen nicht.
Ausweg kennt kein Alter. Also tauschen wir Rollen.
Bis wir eins sind, zeigen uns, worum es uns geht.
Miete, Feminismus, LSD. Bauspar, Strobo, Arbeit.
Im Schnitt haben wir noch Zeit für Kinder.
Tauschen Rollen über Arbeit.
Tauschen Rollen im Bett
Tauschen Rollen im Haushalt
Tauschen Macht.
Analogien von Foucault bis Kirk –
Fernsehen kostet jetzt Geld.
Aber vor der Kamera stehen kann jetzt jeder:
Selbstauslöser, Pfeife auf dem Tisch macht das Stativ
Zwinkern, sync-clap. „Viel Spaß“
Von oben nach unten
Ganz genau die Linie runter
„Ist das auf Dauer nicht langweilig?“
Zick-Zack-Kurs durch bunte Lichter im Dunkeln
Stroboskop setzt Mid-Life-Crisis in Szene
„Ist das auf Dauer nicht anstrengend?“
Uns trennen 24 Jahre.
Existenz ist endlich, ihre Krisen nicht.
Ausweg kennt kein Alter. Also tauschen wir Rollen.
Bis wir eins sind, zeigen uns, worum es uns geht.
Miete, Feminismus, LSD. Bauspar, Strobo, Arbeit.
Im Schnitt haben wir noch Zeit für Kinder.
Tauschen Rollen über Arbeit.
Tauschen Rollen im Bett
Tauschen Rollen im Haushalt
Tauschen Macht.
Analogien von Foucault bis Kirk –
Fernsehen kostet jetzt Geld.
Aber vor der Kamera stehen kann jetzt jeder:
Selbstauslöser, Pfeife auf dem Tisch macht das Stativ
Zwinkern, sync-clap. „Viel Spaß“
Geburtstagsgedanken
Und wieder ist ein Jahr vergangen. Die Zeit vergeht wie im Fluge. Sie rast, als gäbe es kein Halten mehr. War das schon immer so? Mir kommt es so vor, als würde die Zeit immer schneller vergehen, je älter man wird, als würde sie einem regelrecht davonrennen… Wieso bloß?
Am Vorabend meines Geburtstags hatte ich die beste Gesellschaft, die ich mir hätte wünschen können. Zusammen mit M., ihrem Freund A. und K. konnte ich in einer Bar in meine 22 Jahre hineinfeiern und einfach mal loslassen und frei sein.
Zuvor haben wir uns das Fußballspiel Deutschland gegen Italien angesehen und erreichten die Bar, als dieses noch voll im Gange war. Doch als das dann nach einer gefühlten Ewigkeit und einem Sieg für Deutschland beendet war, wurde es auch in der Bar ruhiger und der Abend konnte beginnen.
M. hat sich bei der Auswahl meines Geschenks selbst übertroffen, indem sie mir einen wunderschönen Bilderrahmen mit einem Foto von uns drin schenkte, welches nun bei mir an der Wand hängt.
An meinem eigentlichen Geburtstag waren einige Leute zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Mein Vater auch. Und er ist sogar gekommen, woran ich zweifelte, als ich die E-Mail mit der Einladung versendete. Als ich jünger war musste ich schließlich meistens auf ihn verzichten an meinen Geburtstagen oder er hat mal kurz hereingeschaut. Doch dieses Mal war es anders. Er hat sich richtig Zeit genommen, war entspannt… Vielleicht hat sich bei ihm ja wirklich eine Art Schalter umgelegt und ihm ist klargeworden, dass ich seine Tochter bin und dass er nun mal nur eine hat und er sie verlieren könnte, wenn er nicht für sie da ist. Es macht mich jedenfalls ein wenig stolz, dass er sich so viel Zeit genommen hat, dass alles ganz „normal“ war, nicht etwa verkrampft, dass er sich auch mit meiner Mutter so, wie mit jedem anderen Gast, unterhalten konnte und dass er auch auf mich etwas stolz zu sein schien. Diese Dinge sollten sich eigentlich von selber verstehen, doch bei uns war das lange Zeit nicht so, deswegen freue ich mich jetzt umso mehr über den Verlauf des gestrigen Tages.
Und wieder ist ein Jahr vergangen. Die Zeit vergeht wie im Fluge. Sie rast, als gäbe es kein Halten mehr. War das schon immer so? Mir kommt es so vor, als würde die Zeit immer schneller vergehen, je älter man wird, als würde sie einem regelrecht davonrennen… Wieso bloß?
Am Vorabend meines Geburtstags hatte ich die beste Gesellschaft, die ich mir hätte wünschen können. Zusammen mit M., ihrem Freund A. und K. konnte ich in einer Bar in meine 22 Jahre hineinfeiern und einfach mal loslassen und frei sein.
Zuvor haben wir uns das Fußballspiel Deutschland gegen Italien angesehen und erreichten die Bar, als dieses noch voll im Gange war. Doch als das dann nach einer gefühlten Ewigkeit und einem Sieg für Deutschland beendet war, wurde es auch in der Bar ruhiger und der Abend konnte beginnen.
M. hat sich bei der Auswahl meines Geschenks selbst übertroffen, indem sie mir einen wunderschönen Bilderrahmen mit einem Foto von uns drin schenkte, welches nun bei mir an der Wand hängt.
An meinem eigentlichen Geburtstag waren einige Leute zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Mein Vater auch. Und er ist sogar gekommen, woran ich zweifelte, als ich die E-Mail mit der Einladung versendete. Als ich jünger war musste ich schließlich meistens auf ihn verzichten an meinen Geburtstagen oder er hat mal kurz hereingeschaut. Doch dieses Mal war es anders. Er hat sich richtig Zeit genommen, war entspannt… Vielleicht hat sich bei ihm ja wirklich eine Art Schalter umgelegt und ihm ist klargeworden, dass ich seine Tochter bin und dass er nun mal nur eine hat und er sie verlieren könnte, wenn er nicht für sie da ist. Es macht mich jedenfalls ein wenig stolz, dass er sich so viel Zeit genommen hat, dass alles ganz „normal“ war, nicht etwa verkrampft, dass er sich auch mit meiner Mutter so, wie mit jedem anderen Gast, unterhalten konnte und dass er auch auf mich etwas stolz zu sein schien. Diese Dinge sollten sich eigentlich von selber verstehen, doch bei uns war das lange Zeit nicht so, deswegen freue ich mich jetzt umso mehr über den Verlauf des gestrigen Tages.
Hel
Als Sighrid die Anrufung beendet hatte, warf sie einen erwartungsvollen Blick auf den steinernen Beschwörungskreis an der Klippe. Er war leer. Sie wandte sich enttäuscht und mit Verzweiflung im Herzen ab und wollte schon den Weg zurück ins Dorf antreten, als plötzlich ein schneidend kalter Wind vom Meer aus den Fjord hinaufheulte und an Sighrids weißblondem Haar riss. Sie fröstelte und blickte zurück zum Kreis. Bleiche Furcht kroch in ihre Knochen. Man hatte ihren Ruf gehört – und war ihm gefolgt. Da stand sie. Hel, die Göttin des Todes. Sie war schön und schrecklich zugleich. Ihre Haut war jung, weich und weiß wie Milch; schien jedoch gleichzeitig zu verwittern wie die die Haut eines Toten. Ihr schwarzes, von Eiskristallen durchsetztes Haar wurde von eisigem Wind gepeitscht, dessen Kälte nicht von dieser Welt sein konnte. Sie trug ein einfaches Kleid aus verschlissener Wolle, beinahe wie eine Sklavin. Und doch war ihre Präsenz so furchteinflößend, dass Sighrid zu zittern begann und sich tief verneigte. Sie spürte die Last des abschätzigen Blickes aus den eisblauen Augen der Göttin. Raureif breitete sich auf dem Gras aus wie ein Leichentuch und Sighrids Atem bildete kleine Dampfwolken vor ihrem Gesicht.
„Es ist eine Weile her, dass ich von einer Hexe kontaktiert wurde. Du duftest nach Macht, Kind. Das ist interessant.“ Die Göttin schritt aus dem Kreis und das gefrorene Gras knirschte unter ihren nackten Füßen. „Erhebe dich.“
Sighrid hob den Kopf und blickte fest in das Antlitz der Hel.
Die Göttin schritt im Kreis um die Hexe herum und musterte sie. „Was willst du, Kleines?“
„Mein … mein Mann. Frotnar. Du rufst ihn und willst ihn zu dir holen. Ich habe es in einer Vorahnung gesehen.“
Hel schmunzelte hämisch. „So etwas dachte ich mir schon. Ich soll deinen Mann verschonen. Diese Bitte ist so anmaßend, dass ich sie schon beinahe amüsant fände, wenn sie nicht so einfallslos und vorhersehbar wäre.“
Sighrid schluckte schwer. „Bitte, Hel. Ich hatte nicht viel Zeit mit ihm und ich trage sein Kind unter meinem Herzen.“
Die Göttin schnaufte verächtlich. „Was fällt dir ein, solch eine Forderung zu stellen und sie dann auch noch so dürftig zu begründen, Hexe?“
„Ich kann dir das Leben eines anderen geben. Bitte, sag mir, wen ich für dich töten soll!“
„Du wirst mir mit jedem Wort, das du von dir gibst unsympathischer, du egoistisches, infantiles Miststück! Vielleicht solltest du lieber schweigen!“
Eine Träne gefror auf Sighrids Wange. „Hel, bitte. Wie soll ich ohne ihn zurechtkommen?“
„Du bist eine Zauberin! Sprich einen Liebeszauber und suche dir einen neuen Mann, wie die einfältige Hexe, die du bist! Das ist doch eure bevorzugte Art, einen Partner zu finden, wenn ich mich recht entsinne.“
Wie konnte sie es wagen, so herablassend mit ihr zu sprechen? Niemand aus dem Dorf würde sich das trauen! Doch Sighrid musste Hel gewähren lassen. Sie war eine Göttin. „Aber ich liebe Frotnar.“
Die Züge der Göttin wurden etwas weicher. „Noch hast du Zeit, Kind. Du hast Glück, denn du hast seinen Verfall gesehen, bevor er begonnen hat. Die Krankheit, die Frotnar in meine Arme führen wird ist noch nicht ausgebrochen – aber das wird bald passieren.“
Sighrid blickte der Hel stoisch ins Gesicht obwohl in ihrem Inneren die letzte Hoffnung zerbrach wie ein irdener Krug.
„Nutze die Zeit, die du noch hast, um deinem Mann zu zeigen, wie sehr du ihn schätzt und um dich von ihm zu verabschieden. Denn seine Zeit auf Midgard ist bald abgelaufen. Die Zeit kann niemand aufhalten – nicht einmal Hexen.“
Plötzlich stand Sighrid allein auf der Klippe. Und während die Kälte langsam aus ihren Gliedern verschwand, war sie unschlüssig darüber, ob sie dem Rat Hels folgen sollte. Sie ballte bebend vor Wut und Hilflosigkeit die Fäuste. Was sollte sie tun?
Sighrids Füße fanden den Weg zurück ins Dorf ohne ihr Zutun während sie ihren düsteren Gedanken nachhing. Als sie an ihrem kleinen Haus ankam, schlug Frotnar gerade Feuerholz und rief ihr eine Begrüßung zu, welche sie mit einem halbherzigen Winken erwiderte.
Sie setzte sich auf die Bank vor dem Haus und beobachtete ihren Mann bei der Arbeit. Nach einer Weile fasste sie einen Entschluss. Die Sonne ging hinter den Bäumen unter und tauchte den Rand des Dorfes und den Wald in einen rötlichen Schein. Außer Sighrid und Frotnar war niemand zu sehen, die anderen bereiteten die Boote für die Raubzüge im kommenden Frühling vor.
Die Hexe erhob sich langsam und leise, während ihr Mann die letzten Holzscheite unter regelmäßigen Hieben spaltete.
Hel wollte Frotnar holen. Sie sollte ihn bekommen, das war ohnehin unausweichlich. Die Zeit konnte sie nicht aufhalten. Doch Sighrid würde nicht dabei zusehen, wie ihr geliebter Mann qualvoll an einer Krankheit zugrunde ging. Mit Tränen in den Augen schluckte ihre Angst herunter, wappnete sich für einen letzten Akt der Liebe und zog zitternd ihr Messer aus dem Gürtel.
Als Sighrid die Anrufung beendet hatte, warf sie einen erwartungsvollen Blick auf den steinernen Beschwörungskreis an der Klippe. Er war leer. Sie wandte sich enttäuscht und mit Verzweiflung im Herzen ab und wollte schon den Weg zurück ins Dorf antreten, als plötzlich ein schneidend kalter Wind vom Meer aus den Fjord hinaufheulte und an Sighrids weißblondem Haar riss. Sie fröstelte und blickte zurück zum Kreis. Bleiche Furcht kroch in ihre Knochen. Man hatte ihren Ruf gehört – und war ihm gefolgt. Da stand sie. Hel, die Göttin des Todes. Sie war schön und schrecklich zugleich. Ihre Haut war jung, weich und weiß wie Milch; schien jedoch gleichzeitig zu verwittern wie die die Haut eines Toten. Ihr schwarzes, von Eiskristallen durchsetztes Haar wurde von eisigem Wind gepeitscht, dessen Kälte nicht von dieser Welt sein konnte. Sie trug ein einfaches Kleid aus verschlissener Wolle, beinahe wie eine Sklavin. Und doch war ihre Präsenz so furchteinflößend, dass Sighrid zu zittern begann und sich tief verneigte. Sie spürte die Last des abschätzigen Blickes aus den eisblauen Augen der Göttin. Raureif breitete sich auf dem Gras aus wie ein Leichentuch und Sighrids Atem bildete kleine Dampfwolken vor ihrem Gesicht.
„Es ist eine Weile her, dass ich von einer Hexe kontaktiert wurde. Du duftest nach Macht, Kind. Das ist interessant.“ Die Göttin schritt aus dem Kreis und das gefrorene Gras knirschte unter ihren nackten Füßen. „Erhebe dich.“
Sighrid hob den Kopf und blickte fest in das Antlitz der Hel.
Die Göttin schritt im Kreis um die Hexe herum und musterte sie. „Was willst du, Kleines?“
„Mein … mein Mann. Frotnar. Du rufst ihn und willst ihn zu dir holen. Ich habe es in einer Vorahnung gesehen.“
Hel schmunzelte hämisch. „So etwas dachte ich mir schon. Ich soll deinen Mann verschonen. Diese Bitte ist so anmaßend, dass ich sie schon beinahe amüsant fände, wenn sie nicht so einfallslos und vorhersehbar wäre.“
Sighrid schluckte schwer. „Bitte, Hel. Ich hatte nicht viel Zeit mit ihm und ich trage sein Kind unter meinem Herzen.“
Die Göttin schnaufte verächtlich. „Was fällt dir ein, solch eine Forderung zu stellen und sie dann auch noch so dürftig zu begründen, Hexe?“
„Ich kann dir das Leben eines anderen geben. Bitte, sag mir, wen ich für dich töten soll!“
„Du wirst mir mit jedem Wort, das du von dir gibst unsympathischer, du egoistisches, infantiles Miststück! Vielleicht solltest du lieber schweigen!“
Eine Träne gefror auf Sighrids Wange. „Hel, bitte. Wie soll ich ohne ihn zurechtkommen?“
„Du bist eine Zauberin! Sprich einen Liebeszauber und suche dir einen neuen Mann, wie die einfältige Hexe, die du bist! Das ist doch eure bevorzugte Art, einen Partner zu finden, wenn ich mich recht entsinne.“
Wie konnte sie es wagen, so herablassend mit ihr zu sprechen? Niemand aus dem Dorf würde sich das trauen! Doch Sighrid musste Hel gewähren lassen. Sie war eine Göttin. „Aber ich liebe Frotnar.“
Die Züge der Göttin wurden etwas weicher. „Noch hast du Zeit, Kind. Du hast Glück, denn du hast seinen Verfall gesehen, bevor er begonnen hat. Die Krankheit, die Frotnar in meine Arme führen wird ist noch nicht ausgebrochen – aber das wird bald passieren.“
Sighrid blickte der Hel stoisch ins Gesicht obwohl in ihrem Inneren die letzte Hoffnung zerbrach wie ein irdener Krug.
„Nutze die Zeit, die du noch hast, um deinem Mann zu zeigen, wie sehr du ihn schätzt und um dich von ihm zu verabschieden. Denn seine Zeit auf Midgard ist bald abgelaufen. Die Zeit kann niemand aufhalten – nicht einmal Hexen.“
Plötzlich stand Sighrid allein auf der Klippe. Und während die Kälte langsam aus ihren Gliedern verschwand, war sie unschlüssig darüber, ob sie dem Rat Hels folgen sollte. Sie ballte bebend vor Wut und Hilflosigkeit die Fäuste. Was sollte sie tun?
Sighrids Füße fanden den Weg zurück ins Dorf ohne ihr Zutun während sie ihren düsteren Gedanken nachhing. Als sie an ihrem kleinen Haus ankam, schlug Frotnar gerade Feuerholz und rief ihr eine Begrüßung zu, welche sie mit einem halbherzigen Winken erwiderte.
Sie setzte sich auf die Bank vor dem Haus und beobachtete ihren Mann bei der Arbeit. Nach einer Weile fasste sie einen Entschluss. Die Sonne ging hinter den Bäumen unter und tauchte den Rand des Dorfes und den Wald in einen rötlichen Schein. Außer Sighrid und Frotnar war niemand zu sehen, die anderen bereiteten die Boote für die Raubzüge im kommenden Frühling vor.
Die Hexe erhob sich langsam und leise, während ihr Mann die letzten Holzscheite unter regelmäßigen Hieben spaltete.
Hel wollte Frotnar holen. Sie sollte ihn bekommen, das war ohnehin unausweichlich. Die Zeit konnte sie nicht aufhalten. Doch Sighrid würde nicht dabei zusehen, wie ihr geliebter Mann qualvoll an einer Krankheit zugrunde ging. Mit Tränen in den Augen schluckte ihre Angst herunter, wappnete sich für einen letzten Akt der Liebe und zog zitternd ihr Messer aus dem Gürtel.