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Zombie mit Leidenschaft

Zombie mit Leidenschaft

Morgens sind die Züge voll. Morgens, wenn die Arbeit ruft, ist kein Platz, kein Raum im Zug. Mensch drängt sich an Mensch und schweigt, ein jeder für sich und sein Telefon. Schauen sie auf, schauen sie weg. Treffen sich die Blicke, nur für einen Moment, sieht man einzig: Leere Gesichter. Müde Gesichter. Und ich bin eines davon. Ist es zu früh? Oder war die Nacht zu kurz? Bei mir ist beides der Fall, doch vor allem ersteres ist für mich entscheidend. Ich bin keine Lerche.

An einem solchen Morgen stelle ich immer wieder fest, dass ich bin, was jeder andere hier auch ist. Ich wollte mich immer abgrenzen von ihnen, ich wollte immer meinen Zugang zum Natürlichen, Ursprünglichen und vollkommen Unverfänglichen bewahren. Ich wollte einst lernen, zu sein wie die Bäume, in mir zu ruhen; den Stress an mir abperlen lassen wie eine Lotosblüte; über den Stadtdschungel erhaben sein mit dem Gemüt eines Eremiten. An diesem Morgen musste ich erkennen, dass ich nicht leichtfüßig über den Dschungel hinweg hüpfe, sondern dass ich tief drin stecke, zu tief.
Wie ist es auch weiter verwunderlich, wenn der Ort meines geistigen Lebens in der Stadtmitte liegt, wenn ich an einem System partizipiere, dass für seinen unglaublichen Reichtum an Wissen zu wenig Zeit zur Verfügung stellt, sodass man zwar immer noch mehr erfahren und lernen, das Erlernte gleichzeitig pflegen will, aber regelmäßig daran scheitert? Wie ist es weiter verwunderlich, dass ich werde wie sie, wenn ich in so kurzer Zeit mir selbst auftrage, zwei alte Sprachen zu vertiefen und zu perfektionieren, während ich eine weitere alte Sprache dazu lernen will und auch muss? Wenn ich meine Zeit beginne aufzuteilen zwischen Latein, Altgriechisch, Mittelhochdeutsch, wenigstens ein bisschen Schriftstellerei und den Leuten, die mir wichtig sind, allen voran jener Frau, die mir so viel bedeutet, ist es dann verwunderlich, dass ich vergesse, was es heißt, Zeit zu haben?
Warum ertränke ich mich im Streben nach immer mehr Wissen? Mein Gott! Die Sprachen sind tot! Was will ich eigentlich damit? Dient das alles nur zur Selbstprofilierung, damit ich zu Leuten, die Netflix schauen, sagen kann: „Also ich lese lieber Cicero im Bett statt mir mit epileptischen Superhelden-Lichtblitzen die Sinne zu benebeln. Das ist jetzt aber nicht peiorativ gemeint.“
Dabei mag ich Superhelden doch auch! Ich wäre auch gern ein unsterblicher Wolverine und könnte regelmäßig allen, die ich entsetzlich scheiße und arrogant finde, mit meinen Adamant-Krallen was auf den Deckel geben, angefangen bei mir selbst. Stattdessen kann ich nur wissend lächeln und belehrend erklären: „Adamant kommt von Griechischen adámas und heißt unbezwingbar...“ Glückwunsch, aber dass Wolverine sich nicht in die Knie zwingen lässt, erkennt man auch, wenn man kein Altgriechisch kann.
Oder entspringt dieser Wissensdurst aus der wie ein Damoklesschwert über jedem drohenden, nicht zu beantwortenden Sinnfrage? Keiner weiß, wozu Menschen eigentlich da sind, aber ich bin dazu da, alte Texte zu lesen und mich dabei super schlau zu fühlen. Und ja! Es erfüllt mich auch, das zu tun. Es macht mir Spaß, auf Latein SMS zu schreiben, es macht mir Spaß, Mittelhochdeutsche Epen zu lesen, weil mir dieser Sprache Klang gefällt und weil ich weiß, etwas zu tun, das, wenn es schon kein Alleinstellungsmerkmal ist, zumindest die Zahl der Gleichgesinnten zu einem exklusiven Club zusammenschrumpfen lässt.
Ich folge meinem Interesse und grenze mich ab. Beides geht Hand in Hand und je mehr ich mich im Kosmos der toten Sprachen verliere, umso weniger verstehe ich Leute, die sich mit Sprache nicht auseinandersetzen, weil sie für jene nur Mittel zum Zweck ist. So kann ich mir in meinem Mikrokosmos auf die Schulter klopfen, aber in der anonymen Masse der Mikrokosmen gehe ich gnadenlos unter. Denn, auch wenn mein Kosmos mit einer anderen, vielleicht selteneren Tapete beklebt ist, bleibt es eine Tapete.
Ich richte mir meine Welt ein, so wie jeder andere, damit sie mir erträglich bleibt. Ich umgebe mich mit Menschen, die meine Tapete mögen, und von jenen, deren Geschmack ich nicht würdigen kann, wende ich mich kopfschüttelnd ab und wünschte mir, dass mehr Menschen, einen Geschmack besäßen, den ich teilen kann. Denn dann wäre die Welt natürlich ein besserer Ort, wenn alle so denken würden wie ich, dann wären die Menschen nämlich viel gebildeter, zurückhaltender, höflicher, umgänglicher, reflektierter und...entsetzlich egozentrische Arschlöcher. Aber sind Menschen das nicht immer?
Einige Ausnahmen gibt es bestimmt und ich würde so gerne dazu gehören! Aber jeder Schritt, den mich meine Leidenschaft tiefer in eine tote und vergangene Welt zieht, die für mich blüht und voller Wunder ist, jeder Schritt bringt mich weiter weg vom Verständnis für all jene, die sich nicht durch Sprache definieren, sonder einfach nur eine andere Sprache nutzen.
Von einem Freund, für den Sport über beinahe alles geht, entfremde ich mich immer mehr. Ich ziehe mich aus seiner Welt zurück, vernachlässige die Bewegung, werde unkoordiniert und unkonzentriert. Ich tausche die Bewegung, die mir so viel bedeutete, immer mehr gegen geistige Arbeit ein, ich opfere sie meinem unstillbaren Wissensdurst nach toten Dingen. Ich verliere Fähigkeiten, um andere zu gewinnen. Ich verliere ihn, um anderes zu gewinnen.
So dreht sich meine Spirale weiter. Immer mehr lernen, immer weniger leben. Outsorcen. Kochen können andere, ich gehe nur noch essen. Morgens trinke ich meinen Coffee to go aus dem Plastik-Becher, denn, um ihn zuhause zu trinken, dafür fehlt mir die Zeit. Abends, wenn ich erschlagen zurück komme, kaufe ich mir eine Asia-Box, denn das geht schnell und schmeckt gut. Natürlich esse ich mit einer Plastikgabel.
Ich werde immer mehr wie sie und das schlimme ist, dass ich nicht mal weiß, ob ich mich dagegen wehren will. Ich tauche immer tiefer ein in das, was andere geschaffen haben, verschreibe mich in all meinem Streben der menschlichen, europäischen Kultur, verbleibe bei alten Textzeugnissen und habe doch jeden Tag vor Augen, was er, der maßlose, europäische Geist, der auch jene schuf, ansonsten geschaffen hat.
So sitze ich morgens gefangen im Stadtdschungel, inmitten von hunderten Menschen, dich gedrängt. Schauen sie auf, schauen sie weg und treffen die Blicke sich, sieht man einzig: Leere Gesichter, müde Gesichter, die alle für sich schweigen und für ihr Telefon. Denn wir haben viel zu tun, wir haben zu viel zu tun. Und ich bin eines davon.

Hlorridi Weor

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