Hier Findest du ein Essay zum Thema "ZEIT".
Ressourcenmanagement
„Zeit und Aufmerksamkeit sind die wichtigsten Ressourcen des Literaturwissenschaftlers.“ Dies ist eine Art Mantra von einem meiner Professoren. Nach einem Jahr im Studium kann ich bestätigen, dass Zeit ein wertvolles Gut ist (nicht, dass mir das nicht schon von vorher klar gewesen wäre – aber jetzt erst recht!). Aufmerksamkeit ist fast noch wertvoller. Wer schon mal das zweifelhafte Vergnügen hatte, mehrere wissenschaftliche Texte hintereinander lesen zu dürfen, weiß, dass Aufmerksamkeit aufgrund ihrer Flüchtigkeit ein fieses Arschloch ist. Denn wenn wir von unseren Leselisten mit Lacan oder Bourdieu gefoltert werden, ist die Versuchung, die Aufmerksamkeit stattdessen auf diesen Fussel auf dem Tisch oder auch diesen Fusel auf dem Tisch (je nach Verfügbarkeit) zu lenken, ziemlich groß.
Aber Zeit und Aufmerksamkeit sind nicht nur für Literaturwissenschaftler_innen sehr relevante Ressourcen, sondern für so ziemlich jeden Menschen. Bei allem, was unsere Gesellschaft an Möglichkeiten, Konventionen, Reizen, Verantwortung, Zwängen und mal mehr oder mal weniger berechtigten Erwartungen auffährt, um uns langsam aber sicher zu überfordern, fällt es mir und auch anderen aus meinem Umfeld nicht selten recht schwer, Zeit und Aufmerksamkeit gewissen- und/oder vorteilhaft zu verteilen. In den letzten Jahren glaube ich zunehmend, dass ich den vielen „Du-solltest“s, die mir nicht gerade selten über den Weg laufen, unmöglich gerecht werden kann.
Mensch soll heutzutage nämlich eine ganze Menge. So sollen wir unbedingt vierzig Stunden in der Woche arbeiten. Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass ich das schon hinter mir habe. Jede Person, der es genauso geht, weiß, dass wir dabei schon eine Menge Zeit und Aufmerksamkeit auf der Arbeit lassen. Zudem sollen wir Sport treiben und uns gesund ernähren; am besten täglich frisch einkaufen und kochen. Zu einer gesunden Lebensführung gehören selbstverständlich ausreichend Schlaf – optimalerweise acht Stunden jede Nacht. Aber das Leben sollte nicht nur aus Arbeit und Schlafen bestehen: Hobbys sind demnach unerlässlich. Freundschaften zu pflegen ist ausgesprochen wichtig. Und die Familie ebenfalls. Das beginnt mit dem Führen einer guten, gesunden Partnerschaft. Die reinste Kinderei, wirklich. Apropos Kinderei: Wir sollten uns um die eigenen Kinder kümmern – am besten zwei bis fünf; der Staat braucht Steuerzahler_innen. Wenn du die Dreißig erreicht hast und noch keine Winzlinge mit fünfzig Prozent deines Erbgutes über sonnenbeschienene Wiesen springen, darfst du dich schon mal auf abschätzige Blicke und bohrende Nachfragen bezüglich deiner Familienplanung einstellen. Aber die ältere Generation braucht ebenfalls früher oder später Pflege und Zuwendung – Eltern und Großeltern dürfen nicht vernachlässigt werden. Achja: Wir wollen natürlich nicht, dass irgendwann das Gesundheitsamt wegen des üblen Geruchs vor der Tür steht, deshalb sollten wir auch unseren Haushalt führen. Am besten so, dass wir jederzeit Besuch empfangen können und es aussieht, als wohnten wir in einem Museum. Versteht sich von selbst. Zudem sollten wir auch am kulturellen Leben teilhaben. Das heißt: Bücher lesen, im Kino Filme schauen, ins Theater gehen. Netflixserien sind unter Umständen auch okay, aber nur bis zu einem gewissen Grad und nur in der Peergroup. Neben der körperlichen Gesundheit (aka „gesunde Lebensführung“ und Wahrnehmen sämtlicher Vorsorgeuntersuchungen) ist auch die geistige Gesundheit zu hegen und zu pflegen (vielleicht wegen der vielen anderen „Du-solltest“s, die möglicherweise etwas Stress induzieren). Da gibt es verschiedene Möglichkeiten: Therapie, Meditation, das Fernsehprogramm, „brutale Killerspiele“, den Konsum von Rauschmitteln, Religion oder regelmäßiges Kampfficken im Darkroom. Einige Leute schwören auf bestimmte Kombination aus den genannten Methoden. Außerdem sollten wir unser ganzes Leben über lernen und uns fortbilden. Volkshochschulkurse belegen, Kurse für die berufliche Weiterbildung besuchen usw. Achja, ganz wichtig: Ein Ehrenamt sollten wir auch noch innehaben. Wir alle können schließen etwas zurückgeben.
Wenn wir all das hinbekommen, werden wir den grundlegenden Anforderungen der Gesellschaft gerecht. Hoffentlich.
Mir stellen sich da allerdings ein paar Fragen: Wann? Wo im Namen des Chronos soll ich denn diese ganzen „Du-solltest“s in meinem Alltag unterbringen? Wie soll das eine Person hinbekommen, die vierzig Stunden arbeitet? Acht Stunden Arbeit, täglich je eine Stunde Arbeitsweg hin und zurück und acht Stunden Schlaf. Damit sind noch sechs Stunden vom Tag übrig. Sechs Stunden, in denen wir meist extrem erledigt sind. In diesen sechs Stunden war ich als Arbeitnehmer so erledigt, dass ich selbst dann auf dem Sofa eingepennt wäre, wenn meine verfilmte Lebensgeschichte im Fernsehen gelaufen wäre, in welcher ich von Chris Evans oder Donald Trump oder Mädchen Amick gespielt werde.
Sechs Stunden für Partnerschaft, Familie, Freunde, Hobbys, Haushalt, Sport, Frisches einkaufen und kochen, Weiterbildung, kulturelles Leben, geistige Gesundheit und den ganzen anderen „Du-solltest“s. Na, viel Glück bei dem Versuch, DAS alles zu managen.
Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, ist ein (in den Augen von Teilen der Gesellschaft) defizitäres Leben zu führen, indem ich einige „Du-solltest“s zu ignorieren versuche. Aktuell ignoriere ich persönlich Kinder (ich gehe auf die Dreißig zu und bekomme die ersten Fragen um die Ohren geschleudert), gesundes Essen, Sport und partiell den Haushalt. Zu pflegen ist in meiner Familie glücklicherweise gerade niemand. Auch das mit dem Ehrenamt lasse ich, obwohl jetzt dafür eine gute Zeit wäre. Ich habe nämlich den Luxus, Studierender zu sein und nicht nebenbei arbeiten zu müssen. Vielleicht werde ich Lesepate, darüber denke ich schon länger nach.
Dass ich ein „defizitäres“ Leben führe, bedeutet zwar, dass ich mir ständig mit Aussagen wie „Was, du machst keinen Sport? Aber das ist so wichtig!“, „Wenn du nicht gesund kochst, verringert das deine Lebenszeit.“ oder „Also es wäre ja schon schön, wenn du etwas mehr aufgeräumt hättest, bevor ich zu Besuch komme.“ anhören darf, aber eine andere Wahl scheine ich nicht zu haben. Denn mein Leben ist, so wie ich es aktuell führe, auch schon voll genug. Natürlich kenne ich auch ein oder zwei Menschen, die (zumindest scheinbar) allen „Du-solltest“s nachkommen. Aber die trinken sehr viel Kaffee und haben einen Pakt mit dem Teufel. Und ich hasse Kaffee.
„Zeit und Aufmerksamkeit sind die wichtigsten Ressourcen des Literaturwissenschaftlers.“ Dies ist eine Art Mantra von einem meiner Professoren. Nach einem Jahr im Studium kann ich bestätigen, dass Zeit ein wertvolles Gut ist (nicht, dass mir das nicht schon von vorher klar gewesen wäre – aber jetzt erst recht!). Aufmerksamkeit ist fast noch wertvoller. Wer schon mal das zweifelhafte Vergnügen hatte, mehrere wissenschaftliche Texte hintereinander lesen zu dürfen, weiß, dass Aufmerksamkeit aufgrund ihrer Flüchtigkeit ein fieses Arschloch ist. Denn wenn wir von unseren Leselisten mit Lacan oder Bourdieu gefoltert werden, ist die Versuchung, die Aufmerksamkeit stattdessen auf diesen Fussel auf dem Tisch oder auch diesen Fusel auf dem Tisch (je nach Verfügbarkeit) zu lenken, ziemlich groß.
Aber Zeit und Aufmerksamkeit sind nicht nur für Literaturwissenschaftler_innen sehr relevante Ressourcen, sondern für so ziemlich jeden Menschen. Bei allem, was unsere Gesellschaft an Möglichkeiten, Konventionen, Reizen, Verantwortung, Zwängen und mal mehr oder mal weniger berechtigten Erwartungen auffährt, um uns langsam aber sicher zu überfordern, fällt es mir und auch anderen aus meinem Umfeld nicht selten recht schwer, Zeit und Aufmerksamkeit gewissen- und/oder vorteilhaft zu verteilen. In den letzten Jahren glaube ich zunehmend, dass ich den vielen „Du-solltest“s, die mir nicht gerade selten über den Weg laufen, unmöglich gerecht werden kann.
Mensch soll heutzutage nämlich eine ganze Menge. So sollen wir unbedingt vierzig Stunden in der Woche arbeiten. Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass ich das schon hinter mir habe. Jede Person, der es genauso geht, weiß, dass wir dabei schon eine Menge Zeit und Aufmerksamkeit auf der Arbeit lassen. Zudem sollen wir Sport treiben und uns gesund ernähren; am besten täglich frisch einkaufen und kochen. Zu einer gesunden Lebensführung gehören selbstverständlich ausreichend Schlaf – optimalerweise acht Stunden jede Nacht. Aber das Leben sollte nicht nur aus Arbeit und Schlafen bestehen: Hobbys sind demnach unerlässlich. Freundschaften zu pflegen ist ausgesprochen wichtig. Und die Familie ebenfalls. Das beginnt mit dem Führen einer guten, gesunden Partnerschaft. Die reinste Kinderei, wirklich. Apropos Kinderei: Wir sollten uns um die eigenen Kinder kümmern – am besten zwei bis fünf; der Staat braucht Steuerzahler_innen. Wenn du die Dreißig erreicht hast und noch keine Winzlinge mit fünfzig Prozent deines Erbgutes über sonnenbeschienene Wiesen springen, darfst du dich schon mal auf abschätzige Blicke und bohrende Nachfragen bezüglich deiner Familienplanung einstellen. Aber die ältere Generation braucht ebenfalls früher oder später Pflege und Zuwendung – Eltern und Großeltern dürfen nicht vernachlässigt werden. Achja: Wir wollen natürlich nicht, dass irgendwann das Gesundheitsamt wegen des üblen Geruchs vor der Tür steht, deshalb sollten wir auch unseren Haushalt führen. Am besten so, dass wir jederzeit Besuch empfangen können und es aussieht, als wohnten wir in einem Museum. Versteht sich von selbst. Zudem sollten wir auch am kulturellen Leben teilhaben. Das heißt: Bücher lesen, im Kino Filme schauen, ins Theater gehen. Netflixserien sind unter Umständen auch okay, aber nur bis zu einem gewissen Grad und nur in der Peergroup. Neben der körperlichen Gesundheit (aka „gesunde Lebensführung“ und Wahrnehmen sämtlicher Vorsorgeuntersuchungen) ist auch die geistige Gesundheit zu hegen und zu pflegen (vielleicht wegen der vielen anderen „Du-solltest“s, die möglicherweise etwas Stress induzieren). Da gibt es verschiedene Möglichkeiten: Therapie, Meditation, das Fernsehprogramm, „brutale Killerspiele“, den Konsum von Rauschmitteln, Religion oder regelmäßiges Kampfficken im Darkroom. Einige Leute schwören auf bestimmte Kombination aus den genannten Methoden. Außerdem sollten wir unser ganzes Leben über lernen und uns fortbilden. Volkshochschulkurse belegen, Kurse für die berufliche Weiterbildung besuchen usw. Achja, ganz wichtig: Ein Ehrenamt sollten wir auch noch innehaben. Wir alle können schließen etwas zurückgeben.
Wenn wir all das hinbekommen, werden wir den grundlegenden Anforderungen der Gesellschaft gerecht. Hoffentlich.
Mir stellen sich da allerdings ein paar Fragen: Wann? Wo im Namen des Chronos soll ich denn diese ganzen „Du-solltest“s in meinem Alltag unterbringen? Wie soll das eine Person hinbekommen, die vierzig Stunden arbeitet? Acht Stunden Arbeit, täglich je eine Stunde Arbeitsweg hin und zurück und acht Stunden Schlaf. Damit sind noch sechs Stunden vom Tag übrig. Sechs Stunden, in denen wir meist extrem erledigt sind. In diesen sechs Stunden war ich als Arbeitnehmer so erledigt, dass ich selbst dann auf dem Sofa eingepennt wäre, wenn meine verfilmte Lebensgeschichte im Fernsehen gelaufen wäre, in welcher ich von Chris Evans oder Donald Trump oder Mädchen Amick gespielt werde.
Sechs Stunden für Partnerschaft, Familie, Freunde, Hobbys, Haushalt, Sport, Frisches einkaufen und kochen, Weiterbildung, kulturelles Leben, geistige Gesundheit und den ganzen anderen „Du-solltest“s. Na, viel Glück bei dem Versuch, DAS alles zu managen.
Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, ist ein (in den Augen von Teilen der Gesellschaft) defizitäres Leben zu führen, indem ich einige „Du-solltest“s zu ignorieren versuche. Aktuell ignoriere ich persönlich Kinder (ich gehe auf die Dreißig zu und bekomme die ersten Fragen um die Ohren geschleudert), gesundes Essen, Sport und partiell den Haushalt. Zu pflegen ist in meiner Familie glücklicherweise gerade niemand. Auch das mit dem Ehrenamt lasse ich, obwohl jetzt dafür eine gute Zeit wäre. Ich habe nämlich den Luxus, Studierender zu sein und nicht nebenbei arbeiten zu müssen. Vielleicht werde ich Lesepate, darüber denke ich schon länger nach.
Dass ich ein „defizitäres“ Leben führe, bedeutet zwar, dass ich mir ständig mit Aussagen wie „Was, du machst keinen Sport? Aber das ist so wichtig!“, „Wenn du nicht gesund kochst, verringert das deine Lebenszeit.“ oder „Also es wäre ja schon schön, wenn du etwas mehr aufgeräumt hättest, bevor ich zu Besuch komme.“ anhören darf, aber eine andere Wahl scheine ich nicht zu haben. Denn mein Leben ist, so wie ich es aktuell führe, auch schon voll genug. Natürlich kenne ich auch ein oder zwei Menschen, die (zumindest scheinbar) allen „Du-solltest“s nachkommen. Aber die trinken sehr viel Kaffee und haben einen Pakt mit dem Teufel. Und ich hasse Kaffee.