August Finkstein
August Finkstein betrat die Wohnung, in der er seit über dreißig Jahren zusammen mit seiner Frau Lieselotte lebte.
Herr und Frau Finkstein waren beide Künstler, doch es gab etwas, das die beiden grundsätzlich voneinander unterschied: August hatte Erfolg und seine Frau nicht.
Lieselotte malte. Doch immer wieder probierte sie etwas Neues aus. Mal machte sie Skulpturen, dann schrieb sie und ein anderes Mal versuchte sie sich im Yoga. Sie änderte oft ihre Ernährung von vegetarisch zu pescetarisch oder zu vegan .
Im Flur sah August Finkstein eine Reisetasche, die bevor er gegangen war noch nicht da war.
Aus der Küche hörte er das Geräusch von kochendem Wasser und roch den Duft von Salbei.
Er ging zur offenstehenden Küchentür und sah seine Frau Lieselotte am Herd stehen. Sie sah ihn an und lächelte. Frau Finkstein hatte ein wundervolles Lächeln. Es schien, als könnte nichts ihre gute Stimmung trüben.
Herr Finkstein ging in sein Büro. Es war ein Raum, in dem er seine Ruhe hatte und völlig ungestört schreiben konnte. Von seinem Arbeitsplatz aus konnte er auf den Garten blicken.
Stefan saß am Schreibtisch seines Vaters und las ein Manuskript. Herr Finkstein mochte es nicht, wenn man seinen Raum ungefragt betrat. Aber es gefiel ihm, dass sein Sohn sich für seine Werke interessierte.
Einige Zeit blieb August ruhig im Türrahmen stehen, bevor er sich räusperte. Stefan drehte sich um und hatte kurzzeitig einen ertappten Gesichtsausdruck, dann lachte er. Das freundliche Lachen hatte er von seiner Mutter.
Abends saßen die Finksteins am Esstisch und aßen Lieselottes Kartoffelsuppe nach ihrem eigenen Rezept.
„Ich finde es toll, dass du uns mal wieder besuchst“, sagte August. „Erzähl doch mal, wie es mit der Klatschzeitung läuft.“
„Läuft gut. Bin ganz zufrieden“, sagte Stefan.
„Immer noch nicht vor etwas mit mehr Tragweite und mehr Persönlichkeit zu machen?“, fragte sein Vater.
„Nö. Mir gefällt mein Job ganz gut.“
Stefan war es gewohnt, von seinem Vater aufgrund seiner Stelle als Redakteur bei einer Boulevardzeitung aufgezogen zu werden.
„Findest du es nicht etwas bedenklich, was deine Zeitung so verbreitet?“, sagte August.
„Sind doch nur harmlose Stories über Promis“, sagte Stefan achtlos.
„Durch solche Zeitschriften werden Lügen über Menschen verbreitet. Das kannst du doch nicht für gut halten. Diese Zeitungen haben einen größeren Einfluss als man meinen könnte; vor allem in unteren sozialen Schichten“, sagte August.
Lieselotte warf ihrem Ehemann einen tadelnden Blick zu.
„Es ist nur eine Frauenzeitschrift … “, sagte Stefan.
„Die Leute sollten lieber anständige Sachen lesen, als so einen weichgespülten Müll.“
“Ich denke Stefan sollte das tun was ihn glücklich macht. Er musste sich den Platz als Redakteur schließlich hart erkämpfen“, entgegnete Lieselotte mit ihrem reizenden Lächeln.
„Also genug davon. Lasst uns über etwas anderes reden“, sagte Stefan, „Ich würde euch morgen gerne in ein nettes Restaurant ausführen.“
„Ach, das brauchst du doch nicht“, sagte Lieselotte im mütterlichen Ton.
„Ich weiß, dass ich das nicht tun muss,“, Stefan lächelte, „trotzdem würde ich gerne. Morgen Abend. Ich habe schon reserviert.“
„Du bist so gut zu uns,“strahlte seine Mutter und blickte ihn neugierig an: „Gibt es einen Anlass für diese Ehre?“
Stefan nippte an seinem Weinglas und setzte es ab: „Ja, den gibt es.“
Herr Finkstein studierte die Weinflasche.
Stefan rückte sein Weinglas zurecht. „Ich möchte euch meine Verlobte vorstellen.“
August blickte erstaunt auf. Lieselotte verschluckte sich an ihrem Yogi-Tee und fing an zu husten. Stefan klopfte ihr auf den Rücken.
„Alles gut. Alles gut“, sagte sie etwas kurzatmig.
Herr Finkstein schaute zu seiner Frau: „Lieselotte, ich fürchte, du schuldest mir eine Fußmassage. Aber eine mit dem guten Massageöl. Und nicht weniger als zwanzig Minuten.“
Stefan lachte: „Was soll das denn bedeuten?“
„Das, mein lieber Sohn, bedeutet, dass mich meine Menschenkenntnis nicht getäuscht hat. Ich habe zu Lieselotte gesagt: Es kann nur einen Grund geben, wieso du in letzter Zeit so oft in Berlin bist. Nur eine Frau kann der Grund sein. Doch meine gutmütige und ein kleinwenig naive Gattin dachte tatsächlich du wärst um unseretwillen immer häufiger in der Hauptstadt.“
Frau Finkstein, die sich nun wieder beruhigt hatte, fragte ungläubig: „Deine Verlobte? Aber wieso das denn? Wie lange seid ihr denn zusammen und wieso haben wir sie nicht schon viel früher kennengelernt?“
„Wir kennen uns jetzt seit einem halben Jahr und wir haben vor im Sommer zu heiraten.“
„Diesen Sommer schon?“, Lieselotte schluckte.
„Und wie heißt deine Verlobte?“, fragte Herr Finkstein ruhig.
„Maria“, sagte Stefan.
„Wie habt ihr euch kennengelernt?“, fragte Lieselotte.
„Auf einer Party“, sagte Stefan. „Sie ist sehr nett und wirklich hübsch.“
„Was macht sie beruflich?“, fragte August.
„Sie studiert Spanische Philologie und Kunstgeschichte.“
Stefans Vater nickte: „Also interessiert sie sich für Kunst und Literatur?“
„Ja“, sagte Stefan, „Maria malt. Genau wie du Mutti.“
„Ich bin etwas überrumpelt.“ Lieselotte war deutlich anzusehen, dass sie die Situation erst einmal verarbeiten musste. „Ja, dann werden wir sie wohl morgen kennen lernen.“
„Sie ist bestimmt ein nettes Mädchen“, sagte August milde lächelnd zu seiner Gattin.
Das Abendessen mit Stefans Verlobten Maria verlief gut. Wie Stefan gesagt hatte, war Maria eine sehr nette junge Frau.
August entging auch nicht, dass sie nicht nur gebildet, sondern auch ausgesprochen hübsch war. Sie war schlank und hatte ein hübsches Gesicht mit braunen Augen. Ihre Haare waren dunkel und lockig.
Auch Frau Finkstein war bezaubert von der jungen Frau.
Stefan sagte unentwegt: „Ist sie nicht hübsch? Ich habe so eine wunderschöne Verlobte.“
Immer wenn er so etwas sagte, schämte August sich für seinen Sohn.
Dieses junge Geschöpf war so viel mehr als nur ihr attraktives Äußeres. Herr Finkstein war wirklich beeindruckt von dem was sie sagte. Maria war ein sehr leidenschaftlicher Mensch und wusste genau was sie wollte.
Die Finksteins und Maria dinierten in einem Restaurant bei spanischer Gitarrenmusik. Maria hatte das Etablissement ausgesucht, weil sie diese Art von Musik liebte.
Sie äußerte den Wunsch, dass sie gerne zum Wein eine Zigarette rauchen würde. Deshalb setzten sie sich nach draußen und bestellten, weil Maria es sich so wünschte, eine Flasche trockenen Rotwein.
Niemand der Finksteins störte sich an ihrer bestimmenden Art. Stefan folgte jeder ihrer Forderungen. Sie hatte ihn voll und ganz im Griff. Auch August und Lieselotte waren in ihrem Bann.
Während Maria sich eine Zigarette drehte, sagte sie: „Ja, ich weiß, dass das Rauchen ungesund ist, aber ich genieße es doch ab und zu, wenn ich etwas trinke. Es beruhigt und ich mag es etwas in der Hand zu halten. Ich mag es an der Zigarette zu ziehen und den Rauch wieder auszuatmen. Es gehört für mich einfach zu einem schönen Abend dazu”. Maria zündete ihre Zigarette an, zog und stieß den Rauch aus, „Abende wie diese genieße ich sehr. Die Stadt bietet so viele verschiedene Ambiente. Ich liebe das Leben in der Großstadt. Ich brauche viele Geschäfte, Restaurants, Bars, Galerien und Theater um mich herum. Das inspiriert mich.“
Wieder zog sie an der Zigarette.
„Und wozu nutzen Sie die Inspiration?“, fragte August.
„Das kann alles Mögliche sein. Für meinen Lebensstil, meine Kleidung, meine Kunst, meine Ansichten. Sie bereichert den Geist und gibt mir Mut zu Veränderungen. Und ich liebe Veränderungen. Ohne sie wäre das Leben doch sehr eintönig“, sagte Maria.
„Obwohl Sie so ein starkes Bedürfnis nach Veränderungen haben, fällt es Ihnen leicht sich für immer in einer Ehe zu binden?“, fragte August mit festen Augenkontakt und einem leicht verschmitzten Lächeln.
Maria lachte: „Die Liebe und das Leben sind zwei Dinge, die nicht zusammen passen. Trotzdem habe mich für die Liebe entschieden und versuche diese beiden Komponenten miteinander zu vereinen. So gut wie es geht. In einer Beziehung muss man immer Kompromisse eingehen. Aber dazu bin ich gerne bereit.“
Maria lächelte Stefan an und er gab ihr einen Kuss auf die Wange. August war etwas verlegen von dem Anblick. Lieselotte hingegen war ganz entzückt von dem jungen Pärchen.
August Finkstein schlief diese Nacht sehr unruhig. Immer wieder wachte er auf. Sein Traum plagte ihn und er versuchte immer wieder unangenehme Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben.
Lieselotte spürte, dass etwas mit ihrem Mann nicht stimmte. Sie fragte ihn was los sei, als er sich im Bett hin und her wälzte. Er versicherte ihr, dass alles in Ordnung sei.
Auch als sie sich am nächsten Morgen erkundigte, sagte er bloß, dass er schlecht geträumt habe. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Geträumt hatte er, doch es war kein schlechter Traum. Sogar ein sehr angenehmer; und das war es, dass ihm Unwohlsein bereitete.
Das Ehepaar Finkstein, Stefan und Maria hatten sich für den nächsten Tag verabredet. Lieselotte war voller Aufregung wegen der Hochzeit.
Herr Finkstein stand der Hochzeit sehr kritisch entgegen. Ihm behagte der Gedanke nicht. Er versuchte dieses Gefühl zu unterdrücken, weil seine Bedenken für ihn keinen Sinn ergaben. Er mochte Maria und wusste, dass sie eine tolle Frau war.
August war den ganzen Tag in seinem Schreibzimmer und hatte kaum mit Lieselotte geredet.
Es war normal, dass er lange im Büro saß und schrieb, aber sein Schweigen während des Frühstücks und des Mittagessens war doch sehr ungewöhnlich.
Als Maria und Stefan kamen, saß August immernoch in seinem Zimmer.
„Geht doch schon ein mal ins Wohnzimmer und ich hole August. Der steckt schon den ganzen Tag in seiner Schreibkammer“, sagte Lieselotte zu ihrem Sohn und seiner Verlobten.
Frau Finkstein klopfte an Augusts Bürotür: „Stefan und Maria sind hier.“
„Ich komme gleich. Es ist mir gerade nicht möglich mich eurem Kaffeekränzchen anzuschließen. Ich habe gerade einen Schreibfluss“, rief er.
Sie öffnete die Tür, doch es sah nicht so aus als liefe es gut mit dem Schreiben. Lauter zerrissene und zerknüllte Zettel lagen auf dem Boden verstreut. August saß über den Schreibtisch gebeugt und hielt den Kopf in den Händen.
„Eine kleine Pause würde dir bestimmt gut tun“, sagte sie im fürsorglichen Ton.
„Nein, ich kann jetzt keine Pause machen!“
„Was ist los?“
„Nichts.“
„Dann kannst du ja zu uns kommen.“
Sie lächelte etwas schief. Er atmete tief ein und seufzte. August erhob sich vom Schreibtisch und ging auf Lieselotte zu und sagte im versöhnlichen Ton: „Vielleicht hast du ja Recht und eine Pause kommt jetzt ganz gelegen.“
Als alle zusammen am Tisch saßen, brachte Lieselotte frisch gebrühten Kaffee.
„Habt ihr euch überlegt, ob ihr auch kirchlich heiratet?,“ fragte Frau Finkstein.
„Also ehrlich gesagt haben wir uns noch gar nicht viele Gedanken gemacht“, sagte Maria, „Wir dachten an etwas Kleines mit wenigen Leuten.“
Da entgegnete August: „Ich finde das etwas überstürzt. Eine Hochzeit muss gut durchdacht sein. Schließlich heiratet man nur einmal. Und es ist ja nicht nur die Vermählung. Habt ihr euch überhaupt über die Institution Ehe Gedanken gemacht? Es ist ja nicht nur die Steuerklasse, die sich ändert. Was ist mit gemeinsamen Finanzen und einer gemeinsamen Wohnung? Wo wollt ihr überhaupt hin? Schließlich wohnt Stefan in Düsseldorf und hat dort seinen Job. Berlin ist ja nicht gerade um die Ecke. So etwas sollte man gut durchdenken und ich halte diese Spontan-Hochzeit für eine schlechte Idee. Es ist nichts gegen dich Maria. Nur meine Intuition rät mir dazu euch davon abzuhalten einen schrecklichen Fehler zu begehen.“
Es war kurz still.
Dann sprach Maria: „Wir hatten uns überlegt, dass ich nach Düsseldorf ziehe, da ich dort mein Studium fortsetzen könnte und vorerst würde ich bei Stefan mit einziehen, bis wir uns eine gemeinsame Wohnung gesucht haben. Kirchlich wollen wir nicht heiraten, da wir beide Atheisten sind. Wir haben sehr ähnliche Ansichten und Ziele“, sie nahm Stefans Hand und lächelte ihm zu, „und wir wollen für immer zusammen sein, deshalb wollen wir heiraten.“
August hatte einen Kloß im Hals. Die Situation wurde ihm plötzlich sehr unangenehm und er beschloss, sich wieder etwas zurückzunehmen. Es stieg die Panik in ihm auf, dass die anderen bemerkten was ihn umtrieb.
Er räusperte sich: „Nun gut, wenn ihr denkt, dass ist die richtige Entscheidung und ihr seid euch wirklich sicher. Ich will euch nicht im Weg stehen, auch wenn ich es für keine gute Idee halte.“
Die Familie Finkstein und Maria entschieden sich in Lieselottes Atelier zu fahren, um ihre Bilder anzuschauen. Vor allem Maria interessierte sich sehr für Frau Finksteins Kunst und war ganz gespannt auf die Gemälde und die Plastiken der Schwiegermutter in spe.
August war am wenigsten von der Idee angetan, weil er seine Frau für eine Amateurin hielt. Trotzdem kam er mit, weil er Marias Gegenwart sehr genoss und sie eine wirklich sympathische Frau war, die immer etwas Interessantes zu erzählen hatte.
Im Atelier zeigte Lieselotte stolz ihre liebsten Stücke. Sie malte ausschließlich abstrakt und auch ihre Skulpturen hatten keine realistischen Formen. August fand, dass ihre schnelle Pinselführung von ihrer Ungeduld her rührte und den Bildern keine Dynamik, sondern eher etwas stümperhaftes verlieh.
Maria entdeckte beim Stöbern ein Bild, das in der Ecke zwischen verschiedenen anderen Bilder stand.
„Wieso haben Sie dieses nicht zu Ende gemalt?“
Lieselotte betrachtete das Gemälde, das Maria in den Händen hielt
„Oh. Es ist fertig. Aber es gefällt mir nicht. Nicht gerade mein gelungenstes Werk“, sagte Lieselotte.
„Ich finde es gar nicht schlecht. Je länger ich es betrachte, desto besser gefällt es mir. Als Sie das gemalt haben, fühlten Sie sehr intensiv. Aber es ist nicht fertig. Es fehlt noch die Plastizität, die Dreidimensionalität. Mit ein wenig Arbeit könnte es noch richtig gut werden. Wann haben Sie das gemalt?“, fragte Maria.
Frau Finkstein antwortete nicht sofort.
„Ich habe es gemalt, nachdem meine Mutter gestorben ist; vor etwa einem halben Jahr“, sagte Lieselotte.
Die Erinnerung trieb ihr Tränen in die Augen.
„Das tut mir leid. Mein Beileid“, sagte Maria und fügte mit ruhiger Stimme hinzu: „Sie sollten das Bild fertigstellen. Es wird Ihnen helfen, mit dem Tod Ihrer Mutter abzuschließen. Sonst haben Sie immer das Gefühl, mit diesem Bild Ihrer Mutter nicht gerecht geworden zu sein.“
Lieselotte wischte sich die Tränen aus den Augen und lächelte: „Das ist wirklich eine ganz reizende Idee.“
Maria sagte, dass sie es toll fände mit ihr zusammen zu malen, falls sie es ihr gestattete, das Atelier mitzunutzen und bei Gelegenheit würde sie ihr gerne ihre eigenen Bilder zeigen. Lieselotte war ganz begeistert und sagte ihr sofort zu.
Stefan langweilte sich und interessierte sich überhaupt nicht für das Gesagte.
August hingegen hing an ihren Lippen und lauschte jedem Wort das sie verließ. Was sie sagte, inspirierte ihn sehr. Im Kopf arbeitete er an einer Geschichte, die ihrer würdig wäre. Er wollte eine Figur nach ihrem Vorbild schaffen. Es sollte ein Drama werden oder eine Romanze. August war sich nicht sicher, wie er es anstellen sollte, aber er war sich sicher, dass er über sie schreiben würde.
Er betrachtete genau ihre Gesichtszüge und ihre Hände. Sie hatte sehr kleine und schmale Hände. Ihre Haare waren fast schwarz. Sie war das bezauberndste Mädchen, das er jemals gesehen hatte. Als er sie so intensiv betrachtete, wurden ihm seine Gedanken sehr unangenehm und er hatte Angst, dass die anderen ihm ansehen würden was in seinem Kopf vorging.
August Finkstein war verzweifelt. Er dachte unentwegt an Maria. Er konnte es kaum noch ertragen. Er wollte sie gerne sehen und sie über das Leben philosophieren hören.
Während des letzten Abendessens hatte Maria mit dem Kellner Spanisch gesprochen. August hatte sich sofort in die spanische Sprache verliebt. Dazu noch die spanische Gitarrenmusik. Er war wie verzaubert.
August legte all seine Arbeiten nieder und verfolgte nur noch dieses eine Ziel: Über Maria zu schreiben. Es sollte ein Drama werden. Ein Urlaub auf Kuba mit verhängnisvollen
Folgen.
Herr Finkstein war ein verheirateter Mann und Maria die Verlobte seines Sohnes. Zudem war er doppelt so alt wie sie. Er war sich dessen bewusst und trotzdem sehnte August sich nach ihrer Nähe.
Es war nicht nur die Sehnsucht, die ihn quälte. Auch sein schlechtes Gewissen gegenüber seiner Frau bedrückte ihn. Sie war ihm immer eine gute Frau gewesen, trotzdem war er oft genervt von ihrer Naivität und ihrem Kunstverständnis.
Maria war so viel tiefgründiger und verstand viel mehr von Kunst. Nicht nur von der Malerei auch vom darstellenden Spiel und der Literatur. Sie war wirklich sehr begabt.
In Augusts Augen passten Stefan und Maria nicht zusammen. Stefan war ein intelligenter Kerl, aber er war auch sehr oberflächlich und besaß wenig Selbstreflexion. Andererseits war Maria ein toller Fang für Stefan und das gönnte er seinem Sohn. Trotzdem quälte es August zu wissen, dass Maria Stefans Verlobte war.
Es vergingen Tage und Wochen und Augusts Gedanken drehten sich nur um sie. Er vermied es, sie anzutreffen, weil er furchtbare Angst hatte, dass sie oder seine Familie etwas von seinen unangebrachten Gefühlen mitbekommen würden.
Allerdings hatte sein Verlangen auch eine gute Seite: Es beflügelte ihn beim Schreiben.
August verfasste eine Geschichte über Maria und war fast fertig mit den Entwürfen für ein Drama. Er war schon sehr zufrieden mit dem was er hatte, aber um der Perfektion Willen änderte er es hier und da noch ein Mal um.
Stefan war schon seit einigen Wochen wieder in Düsseldorf und August hatte Maria seit Stefans Besuch nicht mehr gesehen.
Doch dann traf er sie bei einer Kunstausstellung, die er alleine besuchte, da seine Frau krank im Bett lag. Als er sie sah, wollte er schnell flüchten, aber Maria hatte ihn schon entdeckt.
Sie ging freudestrahlend auf ihn zu und begrüßte ihn herzlich. Sie trug ihre Haare offen, dazu eine Bluse und hohe Schuhe. Sie strahlte Vitalität und Lebensfreude aus. Maria war ganz begeistert von ihrem zufälliges Zusammentreffen und bat ihn, mit ihr zusammen die Bilder zu betrachten. August freute sich, dass sie seine Meinung wertschätzte. Die Ausstellung zeigte Fotografien von verschiedenen Künstlern.
Maria erzählte, dass sie gerne fotografierte, aber dass ihre Kamera neulich kaputt gegangen sei und sie nicht genug Geld für die Reparatur hatte.
August sagte ihr, dass er sich gerne durch Fotografien inspirieren ließ. Es gab ihm Ideen für Geschichten, Orte oder Personen.
„Ein guter Autor muss sehr bewandert sein; auch in anderen Künsten als der Literatur. Auch in der Mode, der Musik, der Fotografie und dem Schauspiel. Und er muss sich auch anderen Gebieten annehmen zum Beispiel der Geschichte oder der Wissenschaft“, erzählte er Maria.
Nach der Ausstellung lud August sie zum Essen ein und sie gingen in ein von ihm ausgewähltes Restaurant. Es war ein edles Etablissement mit eleganten Lichtinstallationen und hohen Decken. Die Gäste waren in Anzügen und Kostümen gekleidet.
Maria sagte, dass es unangenehm sei, dass er sie zu einem so teuren Essen einlud.
August beruhigte sie und sagte, dass sie sich darum keine Sorgen machen sollte und dass er das gerne tun würde.
Beim Betreten des Restaurants hielt er ihr die Tür auf, half ihr aus ihrer Jacke und war der perfekte Gentleman. Maria fühlte sich geehrt durch seine Aufmerksamkeit und genoss sie sehr.
Die beiden verstanden sich wirklich gut und August fühlte sich plötzlich wieder jung. Er fühlte sich Maria ganz nah. Sie redeten nicht nur über Malerei oder Bücher, sondern auch über das Leben und die Liebe.
Dann gestand August ihr, dass sie ihn inspirierte und dass er über sie schrieb. Er erzählte von der Geschichte und was er vorhatte. Herr Finkstein gab zu, dass sie ihn sehr beeindruckte und er nur noch an sie denken konnte.
Maria sagte daraufhin: „August. Mir ist aufgefallen, dass es zwischen uns eine gewisse Chemie gibt und wir uns wirklich sehr gut verstehen. Doch was meine Gefühle Ihnen gegenüber angeht, muss ich Sie leider enttäuschen. Ich liebe Ihren Sohn und niemand anderen. Deswegen möchte ich Ihnen das direkt sagen, damit das aus der Welt ist.“
Augusts Herz schlug schnell, ihm wurde heiß und kalt gleichzeitig.
„Ich werde auch mit niemanden darüber reden. Nicht einmal mit Stefan. Das verspreche ich Ihnen.“ August war wirklich sehr enttäuscht auch wenn er wusste, dass seine Hoffnungen lächerlich waren und aufgrund der unangenehmen Situation versuchte er, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
„Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie so ehrlich zu mir sind. Sie wissen ja, ich habe eine Frau und einen Sohn und die will ich nicht enttäuschen. Auch Sie wollte ich nicht in eine missliche Lage bringen. Es tut mir leid. Ich hoffe Sie können mir verzeihen.“
Beim Abschied nahm sie Augusts Hand und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Wir sehen uns bald wieder, aber bis dahin lassen wir etwas Zeit vergehen. Und machen Sie sich keine Sorgen: In wenigen Wochen werde ich zu Stefan ziehen und ich werde aus Ihren Gedanken verschwinden. Ich würde ihnen raten das Buch aufzugeben. Es wäre besser, wenn es niemand liest - vor allem ihre Familie nicht.“
Dann ging sie. Er sah ihr noch hinterher und er fühlte einen Stich im Herzen.
Die Geschichte schrieb er nie weiter. Er zerknüllte alle Notizen und löschte die Datei auf seinem Computer. August widmete sich wieder seinem vorherigen Skript.
Das Geschehene hinterließ eine Leere. August wusste, dass er sein Meisterwerk, sein bestes Stück vernichtet hatte.
August Finkstein betrat die Wohnung, in der er seit über dreißig Jahren zusammen mit seiner Frau Lieselotte lebte.
Herr und Frau Finkstein waren beide Künstler, doch es gab etwas, das die beiden grundsätzlich voneinander unterschied: August hatte Erfolg und seine Frau nicht.
Lieselotte malte. Doch immer wieder probierte sie etwas Neues aus. Mal machte sie Skulpturen, dann schrieb sie und ein anderes Mal versuchte sie sich im Yoga. Sie änderte oft ihre Ernährung von vegetarisch zu pescetarisch oder zu vegan .
Im Flur sah August Finkstein eine Reisetasche, die bevor er gegangen war noch nicht da war.
Aus der Küche hörte er das Geräusch von kochendem Wasser und roch den Duft von Salbei.
Er ging zur offenstehenden Küchentür und sah seine Frau Lieselotte am Herd stehen. Sie sah ihn an und lächelte. Frau Finkstein hatte ein wundervolles Lächeln. Es schien, als könnte nichts ihre gute Stimmung trüben.
Herr Finkstein ging in sein Büro. Es war ein Raum, in dem er seine Ruhe hatte und völlig ungestört schreiben konnte. Von seinem Arbeitsplatz aus konnte er auf den Garten blicken.
Stefan saß am Schreibtisch seines Vaters und las ein Manuskript. Herr Finkstein mochte es nicht, wenn man seinen Raum ungefragt betrat. Aber es gefiel ihm, dass sein Sohn sich für seine Werke interessierte.
Einige Zeit blieb August ruhig im Türrahmen stehen, bevor er sich räusperte. Stefan drehte sich um und hatte kurzzeitig einen ertappten Gesichtsausdruck, dann lachte er. Das freundliche Lachen hatte er von seiner Mutter.
Abends saßen die Finksteins am Esstisch und aßen Lieselottes Kartoffelsuppe nach ihrem eigenen Rezept.
„Ich finde es toll, dass du uns mal wieder besuchst“, sagte August. „Erzähl doch mal, wie es mit der Klatschzeitung läuft.“
„Läuft gut. Bin ganz zufrieden“, sagte Stefan.
„Immer noch nicht vor etwas mit mehr Tragweite und mehr Persönlichkeit zu machen?“, fragte sein Vater.
„Nö. Mir gefällt mein Job ganz gut.“
Stefan war es gewohnt, von seinem Vater aufgrund seiner Stelle als Redakteur bei einer Boulevardzeitung aufgezogen zu werden.
„Findest du es nicht etwas bedenklich, was deine Zeitung so verbreitet?“, sagte August.
„Sind doch nur harmlose Stories über Promis“, sagte Stefan achtlos.
„Durch solche Zeitschriften werden Lügen über Menschen verbreitet. Das kannst du doch nicht für gut halten. Diese Zeitungen haben einen größeren Einfluss als man meinen könnte; vor allem in unteren sozialen Schichten“, sagte August.
Lieselotte warf ihrem Ehemann einen tadelnden Blick zu.
„Es ist nur eine Frauenzeitschrift … “, sagte Stefan.
„Die Leute sollten lieber anständige Sachen lesen, als so einen weichgespülten Müll.“
“Ich denke Stefan sollte das tun was ihn glücklich macht. Er musste sich den Platz als Redakteur schließlich hart erkämpfen“, entgegnete Lieselotte mit ihrem reizenden Lächeln.
„Also genug davon. Lasst uns über etwas anderes reden“, sagte Stefan, „Ich würde euch morgen gerne in ein nettes Restaurant ausführen.“
„Ach, das brauchst du doch nicht“, sagte Lieselotte im mütterlichen Ton.
„Ich weiß, dass ich das nicht tun muss,“, Stefan lächelte, „trotzdem würde ich gerne. Morgen Abend. Ich habe schon reserviert.“
„Du bist so gut zu uns,“strahlte seine Mutter und blickte ihn neugierig an: „Gibt es einen Anlass für diese Ehre?“
Stefan nippte an seinem Weinglas und setzte es ab: „Ja, den gibt es.“
Herr Finkstein studierte die Weinflasche.
Stefan rückte sein Weinglas zurecht. „Ich möchte euch meine Verlobte vorstellen.“
August blickte erstaunt auf. Lieselotte verschluckte sich an ihrem Yogi-Tee und fing an zu husten. Stefan klopfte ihr auf den Rücken.
„Alles gut. Alles gut“, sagte sie etwas kurzatmig.
Herr Finkstein schaute zu seiner Frau: „Lieselotte, ich fürchte, du schuldest mir eine Fußmassage. Aber eine mit dem guten Massageöl. Und nicht weniger als zwanzig Minuten.“
Stefan lachte: „Was soll das denn bedeuten?“
„Das, mein lieber Sohn, bedeutet, dass mich meine Menschenkenntnis nicht getäuscht hat. Ich habe zu Lieselotte gesagt: Es kann nur einen Grund geben, wieso du in letzter Zeit so oft in Berlin bist. Nur eine Frau kann der Grund sein. Doch meine gutmütige und ein kleinwenig naive Gattin dachte tatsächlich du wärst um unseretwillen immer häufiger in der Hauptstadt.“
Frau Finkstein, die sich nun wieder beruhigt hatte, fragte ungläubig: „Deine Verlobte? Aber wieso das denn? Wie lange seid ihr denn zusammen und wieso haben wir sie nicht schon viel früher kennengelernt?“
„Wir kennen uns jetzt seit einem halben Jahr und wir haben vor im Sommer zu heiraten.“
„Diesen Sommer schon?“, Lieselotte schluckte.
„Und wie heißt deine Verlobte?“, fragte Herr Finkstein ruhig.
„Maria“, sagte Stefan.
„Wie habt ihr euch kennengelernt?“, fragte Lieselotte.
„Auf einer Party“, sagte Stefan. „Sie ist sehr nett und wirklich hübsch.“
„Was macht sie beruflich?“, fragte August.
„Sie studiert Spanische Philologie und Kunstgeschichte.“
Stefans Vater nickte: „Also interessiert sie sich für Kunst und Literatur?“
„Ja“, sagte Stefan, „Maria malt. Genau wie du Mutti.“
„Ich bin etwas überrumpelt.“ Lieselotte war deutlich anzusehen, dass sie die Situation erst einmal verarbeiten musste. „Ja, dann werden wir sie wohl morgen kennen lernen.“
„Sie ist bestimmt ein nettes Mädchen“, sagte August milde lächelnd zu seiner Gattin.
Das Abendessen mit Stefans Verlobten Maria verlief gut. Wie Stefan gesagt hatte, war Maria eine sehr nette junge Frau.
August entging auch nicht, dass sie nicht nur gebildet, sondern auch ausgesprochen hübsch war. Sie war schlank und hatte ein hübsches Gesicht mit braunen Augen. Ihre Haare waren dunkel und lockig.
Auch Frau Finkstein war bezaubert von der jungen Frau.
Stefan sagte unentwegt: „Ist sie nicht hübsch? Ich habe so eine wunderschöne Verlobte.“
Immer wenn er so etwas sagte, schämte August sich für seinen Sohn.
Dieses junge Geschöpf war so viel mehr als nur ihr attraktives Äußeres. Herr Finkstein war wirklich beeindruckt von dem was sie sagte. Maria war ein sehr leidenschaftlicher Mensch und wusste genau was sie wollte.
Die Finksteins und Maria dinierten in einem Restaurant bei spanischer Gitarrenmusik. Maria hatte das Etablissement ausgesucht, weil sie diese Art von Musik liebte.
Sie äußerte den Wunsch, dass sie gerne zum Wein eine Zigarette rauchen würde. Deshalb setzten sie sich nach draußen und bestellten, weil Maria es sich so wünschte, eine Flasche trockenen Rotwein.
Niemand der Finksteins störte sich an ihrer bestimmenden Art. Stefan folgte jeder ihrer Forderungen. Sie hatte ihn voll und ganz im Griff. Auch August und Lieselotte waren in ihrem Bann.
Während Maria sich eine Zigarette drehte, sagte sie: „Ja, ich weiß, dass das Rauchen ungesund ist, aber ich genieße es doch ab und zu, wenn ich etwas trinke. Es beruhigt und ich mag es etwas in der Hand zu halten. Ich mag es an der Zigarette zu ziehen und den Rauch wieder auszuatmen. Es gehört für mich einfach zu einem schönen Abend dazu”. Maria zündete ihre Zigarette an, zog und stieß den Rauch aus, „Abende wie diese genieße ich sehr. Die Stadt bietet so viele verschiedene Ambiente. Ich liebe das Leben in der Großstadt. Ich brauche viele Geschäfte, Restaurants, Bars, Galerien und Theater um mich herum. Das inspiriert mich.“
Wieder zog sie an der Zigarette.
„Und wozu nutzen Sie die Inspiration?“, fragte August.
„Das kann alles Mögliche sein. Für meinen Lebensstil, meine Kleidung, meine Kunst, meine Ansichten. Sie bereichert den Geist und gibt mir Mut zu Veränderungen. Und ich liebe Veränderungen. Ohne sie wäre das Leben doch sehr eintönig“, sagte Maria.
„Obwohl Sie so ein starkes Bedürfnis nach Veränderungen haben, fällt es Ihnen leicht sich für immer in einer Ehe zu binden?“, fragte August mit festen Augenkontakt und einem leicht verschmitzten Lächeln.
Maria lachte: „Die Liebe und das Leben sind zwei Dinge, die nicht zusammen passen. Trotzdem habe mich für die Liebe entschieden und versuche diese beiden Komponenten miteinander zu vereinen. So gut wie es geht. In einer Beziehung muss man immer Kompromisse eingehen. Aber dazu bin ich gerne bereit.“
Maria lächelte Stefan an und er gab ihr einen Kuss auf die Wange. August war etwas verlegen von dem Anblick. Lieselotte hingegen war ganz entzückt von dem jungen Pärchen.
August Finkstein schlief diese Nacht sehr unruhig. Immer wieder wachte er auf. Sein Traum plagte ihn und er versuchte immer wieder unangenehme Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben.
Lieselotte spürte, dass etwas mit ihrem Mann nicht stimmte. Sie fragte ihn was los sei, als er sich im Bett hin und her wälzte. Er versicherte ihr, dass alles in Ordnung sei.
Auch als sie sich am nächsten Morgen erkundigte, sagte er bloß, dass er schlecht geträumt habe. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Geträumt hatte er, doch es war kein schlechter Traum. Sogar ein sehr angenehmer; und das war es, dass ihm Unwohlsein bereitete.
Das Ehepaar Finkstein, Stefan und Maria hatten sich für den nächsten Tag verabredet. Lieselotte war voller Aufregung wegen der Hochzeit.
Herr Finkstein stand der Hochzeit sehr kritisch entgegen. Ihm behagte der Gedanke nicht. Er versuchte dieses Gefühl zu unterdrücken, weil seine Bedenken für ihn keinen Sinn ergaben. Er mochte Maria und wusste, dass sie eine tolle Frau war.
August war den ganzen Tag in seinem Schreibzimmer und hatte kaum mit Lieselotte geredet.
Es war normal, dass er lange im Büro saß und schrieb, aber sein Schweigen während des Frühstücks und des Mittagessens war doch sehr ungewöhnlich.
Als Maria und Stefan kamen, saß August immernoch in seinem Zimmer.
„Geht doch schon ein mal ins Wohnzimmer und ich hole August. Der steckt schon den ganzen Tag in seiner Schreibkammer“, sagte Lieselotte zu ihrem Sohn und seiner Verlobten.
Frau Finkstein klopfte an Augusts Bürotür: „Stefan und Maria sind hier.“
„Ich komme gleich. Es ist mir gerade nicht möglich mich eurem Kaffeekränzchen anzuschließen. Ich habe gerade einen Schreibfluss“, rief er.
Sie öffnete die Tür, doch es sah nicht so aus als liefe es gut mit dem Schreiben. Lauter zerrissene und zerknüllte Zettel lagen auf dem Boden verstreut. August saß über den Schreibtisch gebeugt und hielt den Kopf in den Händen.
„Eine kleine Pause würde dir bestimmt gut tun“, sagte sie im fürsorglichen Ton.
„Nein, ich kann jetzt keine Pause machen!“
„Was ist los?“
„Nichts.“
„Dann kannst du ja zu uns kommen.“
Sie lächelte etwas schief. Er atmete tief ein und seufzte. August erhob sich vom Schreibtisch und ging auf Lieselotte zu und sagte im versöhnlichen Ton: „Vielleicht hast du ja Recht und eine Pause kommt jetzt ganz gelegen.“
Als alle zusammen am Tisch saßen, brachte Lieselotte frisch gebrühten Kaffee.
„Habt ihr euch überlegt, ob ihr auch kirchlich heiratet?,“ fragte Frau Finkstein.
„Also ehrlich gesagt haben wir uns noch gar nicht viele Gedanken gemacht“, sagte Maria, „Wir dachten an etwas Kleines mit wenigen Leuten.“
Da entgegnete August: „Ich finde das etwas überstürzt. Eine Hochzeit muss gut durchdacht sein. Schließlich heiratet man nur einmal. Und es ist ja nicht nur die Vermählung. Habt ihr euch überhaupt über die Institution Ehe Gedanken gemacht? Es ist ja nicht nur die Steuerklasse, die sich ändert. Was ist mit gemeinsamen Finanzen und einer gemeinsamen Wohnung? Wo wollt ihr überhaupt hin? Schließlich wohnt Stefan in Düsseldorf und hat dort seinen Job. Berlin ist ja nicht gerade um die Ecke. So etwas sollte man gut durchdenken und ich halte diese Spontan-Hochzeit für eine schlechte Idee. Es ist nichts gegen dich Maria. Nur meine Intuition rät mir dazu euch davon abzuhalten einen schrecklichen Fehler zu begehen.“
Es war kurz still.
Dann sprach Maria: „Wir hatten uns überlegt, dass ich nach Düsseldorf ziehe, da ich dort mein Studium fortsetzen könnte und vorerst würde ich bei Stefan mit einziehen, bis wir uns eine gemeinsame Wohnung gesucht haben. Kirchlich wollen wir nicht heiraten, da wir beide Atheisten sind. Wir haben sehr ähnliche Ansichten und Ziele“, sie nahm Stefans Hand und lächelte ihm zu, „und wir wollen für immer zusammen sein, deshalb wollen wir heiraten.“
August hatte einen Kloß im Hals. Die Situation wurde ihm plötzlich sehr unangenehm und er beschloss, sich wieder etwas zurückzunehmen. Es stieg die Panik in ihm auf, dass die anderen bemerkten was ihn umtrieb.
Er räusperte sich: „Nun gut, wenn ihr denkt, dass ist die richtige Entscheidung und ihr seid euch wirklich sicher. Ich will euch nicht im Weg stehen, auch wenn ich es für keine gute Idee halte.“
Die Familie Finkstein und Maria entschieden sich in Lieselottes Atelier zu fahren, um ihre Bilder anzuschauen. Vor allem Maria interessierte sich sehr für Frau Finksteins Kunst und war ganz gespannt auf die Gemälde und die Plastiken der Schwiegermutter in spe.
August war am wenigsten von der Idee angetan, weil er seine Frau für eine Amateurin hielt. Trotzdem kam er mit, weil er Marias Gegenwart sehr genoss und sie eine wirklich sympathische Frau war, die immer etwas Interessantes zu erzählen hatte.
Im Atelier zeigte Lieselotte stolz ihre liebsten Stücke. Sie malte ausschließlich abstrakt und auch ihre Skulpturen hatten keine realistischen Formen. August fand, dass ihre schnelle Pinselführung von ihrer Ungeduld her rührte und den Bildern keine Dynamik, sondern eher etwas stümperhaftes verlieh.
Maria entdeckte beim Stöbern ein Bild, das in der Ecke zwischen verschiedenen anderen Bilder stand.
„Wieso haben Sie dieses nicht zu Ende gemalt?“
Lieselotte betrachtete das Gemälde, das Maria in den Händen hielt
„Oh. Es ist fertig. Aber es gefällt mir nicht. Nicht gerade mein gelungenstes Werk“, sagte Lieselotte.
„Ich finde es gar nicht schlecht. Je länger ich es betrachte, desto besser gefällt es mir. Als Sie das gemalt haben, fühlten Sie sehr intensiv. Aber es ist nicht fertig. Es fehlt noch die Plastizität, die Dreidimensionalität. Mit ein wenig Arbeit könnte es noch richtig gut werden. Wann haben Sie das gemalt?“, fragte Maria.
Frau Finkstein antwortete nicht sofort.
„Ich habe es gemalt, nachdem meine Mutter gestorben ist; vor etwa einem halben Jahr“, sagte Lieselotte.
Die Erinnerung trieb ihr Tränen in die Augen.
„Das tut mir leid. Mein Beileid“, sagte Maria und fügte mit ruhiger Stimme hinzu: „Sie sollten das Bild fertigstellen. Es wird Ihnen helfen, mit dem Tod Ihrer Mutter abzuschließen. Sonst haben Sie immer das Gefühl, mit diesem Bild Ihrer Mutter nicht gerecht geworden zu sein.“
Lieselotte wischte sich die Tränen aus den Augen und lächelte: „Das ist wirklich eine ganz reizende Idee.“
Maria sagte, dass sie es toll fände mit ihr zusammen zu malen, falls sie es ihr gestattete, das Atelier mitzunutzen und bei Gelegenheit würde sie ihr gerne ihre eigenen Bilder zeigen. Lieselotte war ganz begeistert und sagte ihr sofort zu.
Stefan langweilte sich und interessierte sich überhaupt nicht für das Gesagte.
August hingegen hing an ihren Lippen und lauschte jedem Wort das sie verließ. Was sie sagte, inspirierte ihn sehr. Im Kopf arbeitete er an einer Geschichte, die ihrer würdig wäre. Er wollte eine Figur nach ihrem Vorbild schaffen. Es sollte ein Drama werden oder eine Romanze. August war sich nicht sicher, wie er es anstellen sollte, aber er war sich sicher, dass er über sie schreiben würde.
Er betrachtete genau ihre Gesichtszüge und ihre Hände. Sie hatte sehr kleine und schmale Hände. Ihre Haare waren fast schwarz. Sie war das bezauberndste Mädchen, das er jemals gesehen hatte. Als er sie so intensiv betrachtete, wurden ihm seine Gedanken sehr unangenehm und er hatte Angst, dass die anderen ihm ansehen würden was in seinem Kopf vorging.
August Finkstein war verzweifelt. Er dachte unentwegt an Maria. Er konnte es kaum noch ertragen. Er wollte sie gerne sehen und sie über das Leben philosophieren hören.
Während des letzten Abendessens hatte Maria mit dem Kellner Spanisch gesprochen. August hatte sich sofort in die spanische Sprache verliebt. Dazu noch die spanische Gitarrenmusik. Er war wie verzaubert.
August legte all seine Arbeiten nieder und verfolgte nur noch dieses eine Ziel: Über Maria zu schreiben. Es sollte ein Drama werden. Ein Urlaub auf Kuba mit verhängnisvollen
Folgen.
Herr Finkstein war ein verheirateter Mann und Maria die Verlobte seines Sohnes. Zudem war er doppelt so alt wie sie. Er war sich dessen bewusst und trotzdem sehnte August sich nach ihrer Nähe.
Es war nicht nur die Sehnsucht, die ihn quälte. Auch sein schlechtes Gewissen gegenüber seiner Frau bedrückte ihn. Sie war ihm immer eine gute Frau gewesen, trotzdem war er oft genervt von ihrer Naivität und ihrem Kunstverständnis.
Maria war so viel tiefgründiger und verstand viel mehr von Kunst. Nicht nur von der Malerei auch vom darstellenden Spiel und der Literatur. Sie war wirklich sehr begabt.
In Augusts Augen passten Stefan und Maria nicht zusammen. Stefan war ein intelligenter Kerl, aber er war auch sehr oberflächlich und besaß wenig Selbstreflexion. Andererseits war Maria ein toller Fang für Stefan und das gönnte er seinem Sohn. Trotzdem quälte es August zu wissen, dass Maria Stefans Verlobte war.
Es vergingen Tage und Wochen und Augusts Gedanken drehten sich nur um sie. Er vermied es, sie anzutreffen, weil er furchtbare Angst hatte, dass sie oder seine Familie etwas von seinen unangebrachten Gefühlen mitbekommen würden.
Allerdings hatte sein Verlangen auch eine gute Seite: Es beflügelte ihn beim Schreiben.
August verfasste eine Geschichte über Maria und war fast fertig mit den Entwürfen für ein Drama. Er war schon sehr zufrieden mit dem was er hatte, aber um der Perfektion Willen änderte er es hier und da noch ein Mal um.
Stefan war schon seit einigen Wochen wieder in Düsseldorf und August hatte Maria seit Stefans Besuch nicht mehr gesehen.
Doch dann traf er sie bei einer Kunstausstellung, die er alleine besuchte, da seine Frau krank im Bett lag. Als er sie sah, wollte er schnell flüchten, aber Maria hatte ihn schon entdeckt.
Sie ging freudestrahlend auf ihn zu und begrüßte ihn herzlich. Sie trug ihre Haare offen, dazu eine Bluse und hohe Schuhe. Sie strahlte Vitalität und Lebensfreude aus. Maria war ganz begeistert von ihrem zufälliges Zusammentreffen und bat ihn, mit ihr zusammen die Bilder zu betrachten. August freute sich, dass sie seine Meinung wertschätzte. Die Ausstellung zeigte Fotografien von verschiedenen Künstlern.
Maria erzählte, dass sie gerne fotografierte, aber dass ihre Kamera neulich kaputt gegangen sei und sie nicht genug Geld für die Reparatur hatte.
August sagte ihr, dass er sich gerne durch Fotografien inspirieren ließ. Es gab ihm Ideen für Geschichten, Orte oder Personen.
„Ein guter Autor muss sehr bewandert sein; auch in anderen Künsten als der Literatur. Auch in der Mode, der Musik, der Fotografie und dem Schauspiel. Und er muss sich auch anderen Gebieten annehmen zum Beispiel der Geschichte oder der Wissenschaft“, erzählte er Maria.
Nach der Ausstellung lud August sie zum Essen ein und sie gingen in ein von ihm ausgewähltes Restaurant. Es war ein edles Etablissement mit eleganten Lichtinstallationen und hohen Decken. Die Gäste waren in Anzügen und Kostümen gekleidet.
Maria sagte, dass es unangenehm sei, dass er sie zu einem so teuren Essen einlud.
August beruhigte sie und sagte, dass sie sich darum keine Sorgen machen sollte und dass er das gerne tun würde.
Beim Betreten des Restaurants hielt er ihr die Tür auf, half ihr aus ihrer Jacke und war der perfekte Gentleman. Maria fühlte sich geehrt durch seine Aufmerksamkeit und genoss sie sehr.
Die beiden verstanden sich wirklich gut und August fühlte sich plötzlich wieder jung. Er fühlte sich Maria ganz nah. Sie redeten nicht nur über Malerei oder Bücher, sondern auch über das Leben und die Liebe.
Dann gestand August ihr, dass sie ihn inspirierte und dass er über sie schrieb. Er erzählte von der Geschichte und was er vorhatte. Herr Finkstein gab zu, dass sie ihn sehr beeindruckte und er nur noch an sie denken konnte.
Maria sagte daraufhin: „August. Mir ist aufgefallen, dass es zwischen uns eine gewisse Chemie gibt und wir uns wirklich sehr gut verstehen. Doch was meine Gefühle Ihnen gegenüber angeht, muss ich Sie leider enttäuschen. Ich liebe Ihren Sohn und niemand anderen. Deswegen möchte ich Ihnen das direkt sagen, damit das aus der Welt ist.“
Augusts Herz schlug schnell, ihm wurde heiß und kalt gleichzeitig.
„Ich werde auch mit niemanden darüber reden. Nicht einmal mit Stefan. Das verspreche ich Ihnen.“ August war wirklich sehr enttäuscht auch wenn er wusste, dass seine Hoffnungen lächerlich waren und aufgrund der unangenehmen Situation versuchte er, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
„Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie so ehrlich zu mir sind. Sie wissen ja, ich habe eine Frau und einen Sohn und die will ich nicht enttäuschen. Auch Sie wollte ich nicht in eine missliche Lage bringen. Es tut mir leid. Ich hoffe Sie können mir verzeihen.“
Beim Abschied nahm sie Augusts Hand und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Wir sehen uns bald wieder, aber bis dahin lassen wir etwas Zeit vergehen. Und machen Sie sich keine Sorgen: In wenigen Wochen werde ich zu Stefan ziehen und ich werde aus Ihren Gedanken verschwinden. Ich würde ihnen raten das Buch aufzugeben. Es wäre besser, wenn es niemand liest - vor allem ihre Familie nicht.“
Dann ging sie. Er sah ihr noch hinterher und er fühlte einen Stich im Herzen.
Die Geschichte schrieb er nie weiter. Er zerknüllte alle Notizen und löschte die Datei auf seinem Computer. August widmete sich wieder seinem vorherigen Skript.
Das Geschehene hinterließ eine Leere. August wusste, dass er sein Meisterwerk, sein bestes Stück vernichtet hatte.