Der Brief
Liebster Christian,
ich habe viel über unsere Beziehung nachgedacht. Oft habe ich mit dem Gedanken gespielt, abends vor
Deiner Tür zu stehen. Aber ich dachte wegen der einstweiligen Verfügung wäre das wohl nicht so eine
gute Idee.
In den letzten Wochen bin ich viel meiner Kunst nachgegangen, doch immer wieder wanderten meine
Gedanken zu Dir. Ich leide und versuche aus meinem Leiden neue schöpferische Kraft zu ziehen.
Die wenigen Bilder mit denen ich, trotz aller Selbstzweifel, ganz zufrieden bin, würde ich Dir gerne
zeigen. Deine bürgerliche Meinung zu meinen Werken interessiert mich. Es ist erstaunlich auf welch
naive, geradezu einfältige Art du meine Kunst betrachtest. Du bist noch wie ein Kind und verstehst die
Ironie des Lebens nicht. Du verstehst Kunst nicht. Ich möchte gerne die Meinung aus dem Blickwinkel
eines Laien hören, um euch Unwissende besser zu verstehen.
Seit letzter Woche gehe ich wieder zur Therapie. Ich rede über meine Kindheit und meine Jugend – dass
ich mich als Künstlerin oft unfähig fühle und ich keinen Sinn im Leben sehe.
Es tut mir gut meine Jugend aufzuarbeiten. Ich weiß, ich war schon öfter zur Therapie um meine Kindheit
aufzuarbeiten, aber dieses Mal fühle ich mich wirklich verstanden.
Die Therapeuten, die ich vorher gesehen habe, haben nicht verstanden, wieso ich immer wieder die selben
Themen besprechen möchte. Immer wieder hieß es; ich solle nach vorne sehen und das Beste daraus
machen.
Doch ich leide und wenn ich leide, kann ich nicht nach vorne sehen. Dauernd quält mich das Gefühl zu
erkennen, was sonst niemand sieht. Wieso bin ich die Einzige, die das Leben durchschaut?
Erst wollte ich mich entschuldigen und Dich bitten, mir eine Chance zu geben. Aber je länger ich über uns
beide nachdenke, finde ich, Du solltest dich bei mir entschuldigen. Du kannst froh sein, mit mir
zusammen zu sein. Ich habe Dein Leben bereichert. Ich habe Dir die Welt gezeigt! Vermisst Du mich
denn gar nicht?
Ich weiß nicht, ob Du fähig bist, mich zu verstehen. Ich bin mir nicht ein mal sicher, ob es überhaupt
einen Menschen gibt, der dazu in der Lage ist ...
Die Menschen sehen immer nur sich selbst. Sie sehen nicht das gesamte Bild. Ich sehe das große Ganze
und erkenne wie selbstsüchtig die Menschen sind. Keiner hält sich für egoistisch und trotzdem sind wir
es. Ja, ich nehme mich da nicht aus. Doch der Unterschied zwischen mir und Euch anderen ist, dass ich
im quälenden Bewusstsein dessen lebe.
Ich hoffe, Du weißt, was für eine kostbare und besondere Frau Du aufgibst. Jemanden wie mich findest
Du nie wieder.
In Liebe,
Deine Anna Maria
Liebster Christian,
ich habe viel über unsere Beziehung nachgedacht. Oft habe ich mit dem Gedanken gespielt, abends vor
Deiner Tür zu stehen. Aber ich dachte wegen der einstweiligen Verfügung wäre das wohl nicht so eine
gute Idee.
In den letzten Wochen bin ich viel meiner Kunst nachgegangen, doch immer wieder wanderten meine
Gedanken zu Dir. Ich leide und versuche aus meinem Leiden neue schöpferische Kraft zu ziehen.
Die wenigen Bilder mit denen ich, trotz aller Selbstzweifel, ganz zufrieden bin, würde ich Dir gerne
zeigen. Deine bürgerliche Meinung zu meinen Werken interessiert mich. Es ist erstaunlich auf welch
naive, geradezu einfältige Art du meine Kunst betrachtest. Du bist noch wie ein Kind und verstehst die
Ironie des Lebens nicht. Du verstehst Kunst nicht. Ich möchte gerne die Meinung aus dem Blickwinkel
eines Laien hören, um euch Unwissende besser zu verstehen.
Seit letzter Woche gehe ich wieder zur Therapie. Ich rede über meine Kindheit und meine Jugend – dass
ich mich als Künstlerin oft unfähig fühle und ich keinen Sinn im Leben sehe.
Es tut mir gut meine Jugend aufzuarbeiten. Ich weiß, ich war schon öfter zur Therapie um meine Kindheit
aufzuarbeiten, aber dieses Mal fühle ich mich wirklich verstanden.
Die Therapeuten, die ich vorher gesehen habe, haben nicht verstanden, wieso ich immer wieder die selben
Themen besprechen möchte. Immer wieder hieß es; ich solle nach vorne sehen und das Beste daraus
machen.
Doch ich leide und wenn ich leide, kann ich nicht nach vorne sehen. Dauernd quält mich das Gefühl zu
erkennen, was sonst niemand sieht. Wieso bin ich die Einzige, die das Leben durchschaut?
Erst wollte ich mich entschuldigen und Dich bitten, mir eine Chance zu geben. Aber je länger ich über uns
beide nachdenke, finde ich, Du solltest dich bei mir entschuldigen. Du kannst froh sein, mit mir
zusammen zu sein. Ich habe Dein Leben bereichert. Ich habe Dir die Welt gezeigt! Vermisst Du mich
denn gar nicht?
Ich weiß nicht, ob Du fähig bist, mich zu verstehen. Ich bin mir nicht ein mal sicher, ob es überhaupt
einen Menschen gibt, der dazu in der Lage ist ...
Die Menschen sehen immer nur sich selbst. Sie sehen nicht das gesamte Bild. Ich sehe das große Ganze
und erkenne wie selbstsüchtig die Menschen sind. Keiner hält sich für egoistisch und trotzdem sind wir
es. Ja, ich nehme mich da nicht aus. Doch der Unterschied zwischen mir und Euch anderen ist, dass ich
im quälenden Bewusstsein dessen lebe.
Ich hoffe, Du weißt, was für eine kostbare und besondere Frau Du aufgibst. Jemanden wie mich findest
Du nie wieder.
In Liebe,
Deine Anna Maria
August Finkstein
August Finkstein betrat die Wohnung, in der er seit über dreißig Jahren zusammen mit seiner Frau Lieselotte lebte.
Herr und Frau Finkstein waren beide Künstler, doch es gab etwas, das die beiden grundsätzlich voneinander unterschied: August hatte Erfolg und seine Frau nicht.
Lieselotte malte. Doch immer wieder probierte sie etwas Neues aus. Mal machte sie Skulpturen, dann schrieb sie und ein anderes Mal versuchte sie sich im Yoga. Sie änderte oft ihre Ernährung von vegetarisch zu pescetarisch oder zu vegan .
Im Flur sah August Finkstein eine Reisetasche, die bevor er gegangen war noch nicht da war.
Aus der Küche hörte er das Geräusch von kochendem Wasser und roch den Duft von Salbei.
Er ging zur offenstehenden Küchentür und sah seine Frau Lieselotte am Herd stehen. Sie sah ihn an und lächelte. Frau Finkstein hatte ein wundervolles Lächeln. Es schien, als könnte nichts ihre gute Stimmung trüben.
Herr Finkstein ging in sein Büro. Es war ein Raum, in dem er seine Ruhe hatte und völlig ungestört schreiben konnte. Von seinem Arbeitsplatz aus konnte er auf den Garten blicken.
Stefan saß am Schreibtisch seines Vaters und las ein Manuskript. Herr Finkstein mochte es nicht, wenn man seinen Raum ungefragt betrat. Aber es gefiel ihm, dass sein Sohn sich für seine Werke interessierte.
Einige Zeit blieb August ruhig im Türrahmen stehen, bevor er sich räusperte. Stefan drehte sich um und hatte kurzzeitig einen ertappten Gesichtsausdruck, dann lachte er. Das freundliche Lachen hatte er von seiner Mutter.
Abends saßen die Finksteins am Esstisch und aßen Lieselottes Kartoffelsuppe nach ihrem eigenen Rezept.
„Ich finde es toll, dass du uns mal wieder besuchst“, sagte August. „Erzähl doch mal, wie es mit der Klatschzeitung läuft.“
„Läuft gut. Bin ganz zufrieden“, sagte Stefan.
„Immer noch nicht vor etwas mit mehr Tragweite und mehr Persönlichkeit zu machen?“, fragte sein Vater.
„Nö. Mir gefällt mein Job ganz gut.“
Stefan war es gewohnt, von seinem Vater aufgrund seiner Stelle als Redakteur bei einer Boulevardzeitung aufgezogen zu werden.
„Findest du es nicht etwas bedenklich, was deine Zeitung so verbreitet?“, sagte August.
„Sind doch nur harmlose Stories über Promis“, sagte Stefan achtlos.
„Durch solche Zeitschriften werden Lügen über Menschen verbreitet. Das kannst du doch nicht für gut halten. Diese Zeitungen haben einen größeren Einfluss als man meinen könnte; vor allem in unteren sozialen Schichten“, sagte August.
Lieselotte warf ihrem Ehemann einen tadelnden Blick zu.
„Es ist nur eine Frauenzeitschrift … “, sagte Stefan.
„Die Leute sollten lieber anständige Sachen lesen, als so einen weichgespülten Müll.“
“Ich denke Stefan sollte das tun was ihn glücklich macht. Er musste sich den Platz als Redakteur schließlich hart erkämpfen“, entgegnete Lieselotte mit ihrem reizenden Lächeln.
„Also genug davon. Lasst uns über etwas anderes reden“, sagte Stefan, „Ich würde euch morgen gerne in ein nettes Restaurant ausführen.“
„Ach, das brauchst du doch nicht“, sagte Lieselotte im mütterlichen Ton.
„Ich weiß, dass ich das nicht tun muss,“, Stefan lächelte, „trotzdem würde ich gerne. Morgen Abend. Ich habe schon reserviert.“
„Du bist so gut zu uns,“strahlte seine Mutter und blickte ihn neugierig an: „Gibt es einen Anlass für diese Ehre?“
Stefan nippte an seinem Weinglas und setzte es ab: „Ja, den gibt es.“
Herr Finkstein studierte die Weinflasche.
Stefan rückte sein Weinglas zurecht. „Ich möchte euch meine Verlobte vorstellen.“
Weiterlesen...
August Finkstein betrat die Wohnung, in der er seit über dreißig Jahren zusammen mit seiner Frau Lieselotte lebte.
Herr und Frau Finkstein waren beide Künstler, doch es gab etwas, das die beiden grundsätzlich voneinander unterschied: August hatte Erfolg und seine Frau nicht.
Lieselotte malte. Doch immer wieder probierte sie etwas Neues aus. Mal machte sie Skulpturen, dann schrieb sie und ein anderes Mal versuchte sie sich im Yoga. Sie änderte oft ihre Ernährung von vegetarisch zu pescetarisch oder zu vegan .
Im Flur sah August Finkstein eine Reisetasche, die bevor er gegangen war noch nicht da war.
Aus der Küche hörte er das Geräusch von kochendem Wasser und roch den Duft von Salbei.
Er ging zur offenstehenden Küchentür und sah seine Frau Lieselotte am Herd stehen. Sie sah ihn an und lächelte. Frau Finkstein hatte ein wundervolles Lächeln. Es schien, als könnte nichts ihre gute Stimmung trüben.
Herr Finkstein ging in sein Büro. Es war ein Raum, in dem er seine Ruhe hatte und völlig ungestört schreiben konnte. Von seinem Arbeitsplatz aus konnte er auf den Garten blicken.
Stefan saß am Schreibtisch seines Vaters und las ein Manuskript. Herr Finkstein mochte es nicht, wenn man seinen Raum ungefragt betrat. Aber es gefiel ihm, dass sein Sohn sich für seine Werke interessierte.
Einige Zeit blieb August ruhig im Türrahmen stehen, bevor er sich räusperte. Stefan drehte sich um und hatte kurzzeitig einen ertappten Gesichtsausdruck, dann lachte er. Das freundliche Lachen hatte er von seiner Mutter.
Abends saßen die Finksteins am Esstisch und aßen Lieselottes Kartoffelsuppe nach ihrem eigenen Rezept.
„Ich finde es toll, dass du uns mal wieder besuchst“, sagte August. „Erzähl doch mal, wie es mit der Klatschzeitung läuft.“
„Läuft gut. Bin ganz zufrieden“, sagte Stefan.
„Immer noch nicht vor etwas mit mehr Tragweite und mehr Persönlichkeit zu machen?“, fragte sein Vater.
„Nö. Mir gefällt mein Job ganz gut.“
Stefan war es gewohnt, von seinem Vater aufgrund seiner Stelle als Redakteur bei einer Boulevardzeitung aufgezogen zu werden.
„Findest du es nicht etwas bedenklich, was deine Zeitung so verbreitet?“, sagte August.
„Sind doch nur harmlose Stories über Promis“, sagte Stefan achtlos.
„Durch solche Zeitschriften werden Lügen über Menschen verbreitet. Das kannst du doch nicht für gut halten. Diese Zeitungen haben einen größeren Einfluss als man meinen könnte; vor allem in unteren sozialen Schichten“, sagte August.
Lieselotte warf ihrem Ehemann einen tadelnden Blick zu.
„Es ist nur eine Frauenzeitschrift … “, sagte Stefan.
„Die Leute sollten lieber anständige Sachen lesen, als so einen weichgespülten Müll.“
“Ich denke Stefan sollte das tun was ihn glücklich macht. Er musste sich den Platz als Redakteur schließlich hart erkämpfen“, entgegnete Lieselotte mit ihrem reizenden Lächeln.
„Also genug davon. Lasst uns über etwas anderes reden“, sagte Stefan, „Ich würde euch morgen gerne in ein nettes Restaurant ausführen.“
„Ach, das brauchst du doch nicht“, sagte Lieselotte im mütterlichen Ton.
„Ich weiß, dass ich das nicht tun muss,“, Stefan lächelte, „trotzdem würde ich gerne. Morgen Abend. Ich habe schon reserviert.“
„Du bist so gut zu uns,“strahlte seine Mutter und blickte ihn neugierig an: „Gibt es einen Anlass für diese Ehre?“
Stefan nippte an seinem Weinglas und setzte es ab: „Ja, den gibt es.“
Herr Finkstein studierte die Weinflasche.
Stefan rückte sein Weinglas zurecht. „Ich möchte euch meine Verlobte vorstellen.“
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Oberflächlichkeiten
Max zog sich sein T-Shirt über den Kopf und öffnete ungeschickt seinen Gürtel. Er versuchte sich so schnell wie möglich von seiner Kleidung zu befreien. Tilli kicherte, als Max versuchte die Jeans von seinen Knöcheln zu schütteln.
„Komm endlich ins Bett“, sagte sie.
Max und Tilli liebten sich wie zwei Teenager – wild und unbeholfen. Danach lagen sie beide schwer atmend nebeneinander im Bett. Max bedeutete Tilli sich in seinen Arm zu legen. Sie schmiegte sich an ihn und legte ein Bein über ihn.
„Wusstest du, dass ich nur mit beschnittenen Männern ins Bett gehe?“, sagte Tilli.
„Wenn ich nicht beschnitten wäre, hättest du nicht mit mir geschlafen?“, fragte Max.
„Ja“, sagte Tilli kichernd.
„Wieso? Du bist doch evangelisch.“
„Einfach so“, sie zuckte die Achseln, dann legte sie ihren Kopf auf seine Brust.
Max verbrachte die Nacht bei Tilli. Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück fuhr er nach Hause und duschte ausführlich.
Am Abend kam seine Freundin Helena von einer Geschäftsreise wieder. Sie hatte einen Klienten zu einem wichtigen Termin nach Berlin begleitet. Als Helena herein kam, saß Max vor dem Fernseher.
Sie beugte sich zu ihm herunter und gab ihm einen Kuss.
„Ich bin total fertig, Schatz. Ich spring' schnell unter die Dusche und dann geh ich direkt ins Bett“, sagte sie.
„Wie war es in Berlin?“, fragte Max.
„Gut. Besser hätte es nicht laufen können. George beweist echtes Potenzial und das wurde auch wertgeschätzt. Na ja, so viel Wertschätzung wie man in der Musik-Branche eben bekommt. Auf jeden Fall hat George fantastische Chancen ganz groß raus zu kommen“, während sie sprach, verließ Helena das Wohnzimmer. Max verfolgte weiter das Fernsehprogramm.
Erst als Helena schon schlief, legte Max sich zu ihr. Er betrachtete ihr Gesicht. Sie war wirklich vollkommen. Ihre Haut war rein und ebenmäßig und ihr Körper wohlgeformt. Max war gerade so groß wie sie. Wenn Helena hohe Schuhe trug – was sie sehr gerne tat – war er kleiner, und das mochte Max gar nicht.
„Da bleibe ich lieber zu Hause als so mit dir raus zu gehen“, sagte er dann.
Helena machte es nichts aus, wenn Max ein Paar Zentimeter kleiner war. Sie war eine selbstbewusste Frau. Da beide sehr stur waren, blieb Max zu Hause und Helena trug ihre hohen Schuhe.
Max schmiedete schon seit Längerem den Plan, seine Freundin für Tilli zu verlassen. Es war nicht so, dass er Helena nicht verehrte. Natürlich verehrte er die schöne Helena. Jeder tat das. Das Problem war ein anderes.
„Sie ist so oberflächlich,“ hatte er einmal zu Tilli gesagt, „Du bist ganz anders.“
Tilli war tatsächlich anders als Helena. Sie war kleiner und ihre Haut war lange nicht so rein wie Helenas. Tillis Gesicht war blass und die Haut um ihre Nase gerötet. Sie war keine Karrierefrau. Tilli hatte einen ganz normalen Job in einer ganz normalen Drogerie.
Je länger Max sein Doppelleben führte, desto unbehaglicher fühlte er sich in seiner Haut. Er war kein Don Juan und erst recht kein Jongleur. Er wusste, dass seine Affäre nicht lange unbemerkt bleiben würde und er bald handeln musste, bevor Helena es herausfand. Außerdem quälte ihn sein schlechtes Gewissen und er fühlte sich schuldig, weil er untreu war.
Nachts konnte er kaum noch schlafen, und in dieser schlaflosen Nächte fällte er eine Entscheidung.
Am nächsten Tag fuhr er nach der Arbeit im Büro zu Tilli. Er hatte Blumen dabei und als sie ihm die Tür öffnete, kniete er vor ihr nieder: „Ich werde Helena für dich verlassen! Dann können wir endlich zusammen sein. Keine Geheimnistuerei mehr.“
Tillis Reaktion war nicht ganz, das was Max sich erhofft hatte. Sie atmete tief ein und sagte dann: „Damit habe ich jetzt nicht gerechnet.“
Max' Lächeln verrutschte etwas: „Freust du dich nicht? Willst du nicht mit mir zusammen sein?“
„Doch, ich will mit dir zusammen sein ... “ sie zögerte, „ Aber nicht so.“
„Wie? Nicht so?“
„Ich fand es eigentlich ganz gut wie es zwischen uns lief“, sagte Tilli.
Max erhob sich vom Boden: „Aber ich hab’ gedacht wir lieben uns.“
„Ja, aber doch nicht so ... “
Max verstand die Welt nicht mehr: „Wieso willst du nicht mit mir zusammen sein? Richtig zusammen sein. Nicht nur Zeit miteinander verbringen.“
„Na ja“, sagte Tilli mit Unbehagen, „Meine Eltern erwarten, dass ich einen Christen heirate.“
„Ich hab’ gedacht du schläfst nur mit beschnittenen Männern?“, fragte Max entsetzt.
„Jaaah, doch nur bis ich verheiratet bin.“
Max fiel die Kinnlade herunter. Er konnte nicht glauben, dass er ihretwegen seine schöne Helena verlassen wollte. Er schmiss die Blumen auf den Boden.
„Mach es gut, Tilli.“
Als er den Hausflur entlang ging, rief Tilli ihm hinterher.
Max drehte sich um.
„Tut mir leid, dass wir nicht zusammen sein können, weil du Jude bist,“ rief sie ihm hinterher.
Nach seiner Demütigung bei Tilli, musste er sich wirklich beeilen, denn zu Hause hatte er eine Nachricht hinterlassen, die Helena lesen würde, wenn sie gleich nach Hause kam.
Max nahm die Beine in die Hand und rannte wie ein Wahnsinniger durch die Straßen. An dem Haus angekommen, fingerte er den Haustürschlüssel aus der Hosentasche. Seine Hände zitterten als er das Schloss öffnete. Er eilte die Treppen hoch in den dritten Stock.
Als er die Wohnung betrat, musste er verzweifelt feststellen, dass er zu spät war. Helena saß am Esstisch und starrte auf Max' Brief.
„Es tut mir leid. Das was da steht, ist nicht so gemeint. Ich liebe dich“, winselte er.
„Hier steht, dass du mich verlassen willst für eine Frau namens Tilli.“
„Das war nur ein kleiner Scherz. April April.“
„Es ist Mai.“
„Es tut mir leid. Wirklich!“ Max kroch ihr zu Füßen.
„Ich kann es nicht glauben. Du kleiner Wicht, hast mich doch tatsächlich mit einer Drogistin betrogen! Und jetzt kommst du wieder angekrochen? War wohl doch nicht die große Liebe zwischen euch beiden?“
„Nein, so ist es nicht. Mir ist klar geworden, dass ich nur dich liebe.“
Helena lachte. Ihr Lachen verhieß eine Mischung aus Ungläubigkeit und Verachtung.
„Bitte, verzeih mir“, flehte Max.
Helena erwiderte zunächst nichts, dann sagte sie kühl: „Okay.“
„Okay? Okay, was?“
„Es ist okay, dass du mit der kleinen Drogistin geschlafen hast,“ sagte Helena.
Zuerst war Max verwirrt, doch er spürte schnell, dass etwas nicht stimmte. Seine Freundin erhob sich vom Tisch, nahm ihre Handtasche und ging zur Wohnungstür. Dort drehte sie sich nochmal um: „Ich hab übrigens mit George geschlafen.“
Mit diesen Worten verließ Helena die Wohnung und ließ Max mit offenem Mund zurück.
Max zog sich sein T-Shirt über den Kopf und öffnete ungeschickt seinen Gürtel. Er versuchte sich so schnell wie möglich von seiner Kleidung zu befreien. Tilli kicherte, als Max versuchte die Jeans von seinen Knöcheln zu schütteln.
„Komm endlich ins Bett“, sagte sie.
Max und Tilli liebten sich wie zwei Teenager – wild und unbeholfen. Danach lagen sie beide schwer atmend nebeneinander im Bett. Max bedeutete Tilli sich in seinen Arm zu legen. Sie schmiegte sich an ihn und legte ein Bein über ihn.
„Wusstest du, dass ich nur mit beschnittenen Männern ins Bett gehe?“, sagte Tilli.
„Wenn ich nicht beschnitten wäre, hättest du nicht mit mir geschlafen?“, fragte Max.
„Ja“, sagte Tilli kichernd.
„Wieso? Du bist doch evangelisch.“
„Einfach so“, sie zuckte die Achseln, dann legte sie ihren Kopf auf seine Brust.
Max verbrachte die Nacht bei Tilli. Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück fuhr er nach Hause und duschte ausführlich.
Am Abend kam seine Freundin Helena von einer Geschäftsreise wieder. Sie hatte einen Klienten zu einem wichtigen Termin nach Berlin begleitet. Als Helena herein kam, saß Max vor dem Fernseher.
Sie beugte sich zu ihm herunter und gab ihm einen Kuss.
„Ich bin total fertig, Schatz. Ich spring' schnell unter die Dusche und dann geh ich direkt ins Bett“, sagte sie.
„Wie war es in Berlin?“, fragte Max.
„Gut. Besser hätte es nicht laufen können. George beweist echtes Potenzial und das wurde auch wertgeschätzt. Na ja, so viel Wertschätzung wie man in der Musik-Branche eben bekommt. Auf jeden Fall hat George fantastische Chancen ganz groß raus zu kommen“, während sie sprach, verließ Helena das Wohnzimmer. Max verfolgte weiter das Fernsehprogramm.
Erst als Helena schon schlief, legte Max sich zu ihr. Er betrachtete ihr Gesicht. Sie war wirklich vollkommen. Ihre Haut war rein und ebenmäßig und ihr Körper wohlgeformt. Max war gerade so groß wie sie. Wenn Helena hohe Schuhe trug – was sie sehr gerne tat – war er kleiner, und das mochte Max gar nicht.
„Da bleibe ich lieber zu Hause als so mit dir raus zu gehen“, sagte er dann.
Helena machte es nichts aus, wenn Max ein Paar Zentimeter kleiner war. Sie war eine selbstbewusste Frau. Da beide sehr stur waren, blieb Max zu Hause und Helena trug ihre hohen Schuhe.
Max schmiedete schon seit Längerem den Plan, seine Freundin für Tilli zu verlassen. Es war nicht so, dass er Helena nicht verehrte. Natürlich verehrte er die schöne Helena. Jeder tat das. Das Problem war ein anderes.
„Sie ist so oberflächlich,“ hatte er einmal zu Tilli gesagt, „Du bist ganz anders.“
Tilli war tatsächlich anders als Helena. Sie war kleiner und ihre Haut war lange nicht so rein wie Helenas. Tillis Gesicht war blass und die Haut um ihre Nase gerötet. Sie war keine Karrierefrau. Tilli hatte einen ganz normalen Job in einer ganz normalen Drogerie.
Je länger Max sein Doppelleben führte, desto unbehaglicher fühlte er sich in seiner Haut. Er war kein Don Juan und erst recht kein Jongleur. Er wusste, dass seine Affäre nicht lange unbemerkt bleiben würde und er bald handeln musste, bevor Helena es herausfand. Außerdem quälte ihn sein schlechtes Gewissen und er fühlte sich schuldig, weil er untreu war.
Nachts konnte er kaum noch schlafen, und in dieser schlaflosen Nächte fällte er eine Entscheidung.
Am nächsten Tag fuhr er nach der Arbeit im Büro zu Tilli. Er hatte Blumen dabei und als sie ihm die Tür öffnete, kniete er vor ihr nieder: „Ich werde Helena für dich verlassen! Dann können wir endlich zusammen sein. Keine Geheimnistuerei mehr.“
Tillis Reaktion war nicht ganz, das was Max sich erhofft hatte. Sie atmete tief ein und sagte dann: „Damit habe ich jetzt nicht gerechnet.“
Max' Lächeln verrutschte etwas: „Freust du dich nicht? Willst du nicht mit mir zusammen sein?“
„Doch, ich will mit dir zusammen sein ... “ sie zögerte, „ Aber nicht so.“
„Wie? Nicht so?“
„Ich fand es eigentlich ganz gut wie es zwischen uns lief“, sagte Tilli.
Max erhob sich vom Boden: „Aber ich hab’ gedacht wir lieben uns.“
„Ja, aber doch nicht so ... “
Max verstand die Welt nicht mehr: „Wieso willst du nicht mit mir zusammen sein? Richtig zusammen sein. Nicht nur Zeit miteinander verbringen.“
„Na ja“, sagte Tilli mit Unbehagen, „Meine Eltern erwarten, dass ich einen Christen heirate.“
„Ich hab’ gedacht du schläfst nur mit beschnittenen Männern?“, fragte Max entsetzt.
„Jaaah, doch nur bis ich verheiratet bin.“
Max fiel die Kinnlade herunter. Er konnte nicht glauben, dass er ihretwegen seine schöne Helena verlassen wollte. Er schmiss die Blumen auf den Boden.
„Mach es gut, Tilli.“
Als er den Hausflur entlang ging, rief Tilli ihm hinterher.
Max drehte sich um.
„Tut mir leid, dass wir nicht zusammen sein können, weil du Jude bist,“ rief sie ihm hinterher.
Nach seiner Demütigung bei Tilli, musste er sich wirklich beeilen, denn zu Hause hatte er eine Nachricht hinterlassen, die Helena lesen würde, wenn sie gleich nach Hause kam.
Max nahm die Beine in die Hand und rannte wie ein Wahnsinniger durch die Straßen. An dem Haus angekommen, fingerte er den Haustürschlüssel aus der Hosentasche. Seine Hände zitterten als er das Schloss öffnete. Er eilte die Treppen hoch in den dritten Stock.
Als er die Wohnung betrat, musste er verzweifelt feststellen, dass er zu spät war. Helena saß am Esstisch und starrte auf Max' Brief.
„Es tut mir leid. Das was da steht, ist nicht so gemeint. Ich liebe dich“, winselte er.
„Hier steht, dass du mich verlassen willst für eine Frau namens Tilli.“
„Das war nur ein kleiner Scherz. April April.“
„Es ist Mai.“
„Es tut mir leid. Wirklich!“ Max kroch ihr zu Füßen.
„Ich kann es nicht glauben. Du kleiner Wicht, hast mich doch tatsächlich mit einer Drogistin betrogen! Und jetzt kommst du wieder angekrochen? War wohl doch nicht die große Liebe zwischen euch beiden?“
„Nein, so ist es nicht. Mir ist klar geworden, dass ich nur dich liebe.“
Helena lachte. Ihr Lachen verhieß eine Mischung aus Ungläubigkeit und Verachtung.
„Bitte, verzeih mir“, flehte Max.
Helena erwiderte zunächst nichts, dann sagte sie kühl: „Okay.“
„Okay? Okay, was?“
„Es ist okay, dass du mit der kleinen Drogistin geschlafen hast,“ sagte Helena.
Zuerst war Max verwirrt, doch er spürte schnell, dass etwas nicht stimmte. Seine Freundin erhob sich vom Tisch, nahm ihre Handtasche und ging zur Wohnungstür. Dort drehte sie sich nochmal um: „Ich hab übrigens mit George geschlafen.“
Mit diesen Worten verließ Helena die Wohnung und ließ Max mit offenem Mund zurück.
Zeit sparen
Ich schaue auf meine Uhr. Zwei Stunden. Zwei Stunden, dann werde ich wieder in meinem geliebten Berlin sein. Es ist kurz vor acht und ich bin schon seit sechs Uhr unterwegs. Ich bin müde, aber ich kann nicht schlafen beziehungsweise wollte ich nicht schlafen. Zugfahrten versuche ich immer sinnvoll zu nutzen. Obwohl der Weg von einem Punkt zum anderen eigentlich keine ungenutzte Zeit ist. Ich fahre ja nicht sinnlos in der Gegend herum.
Während der Zug mich innerhalb von vier Stunden von Frankfurt am Main nach Berlin kutschiert, schreibe ich diesen Text, gucke zwischendurch aus dem Fenster und sehe die Welt rasend schnell an mir vorbeirauschen. Außerdem blicke ich ab und zu auf mein Handy. Mal ist der Empfang ganz gut, mal weniger. Es ist doch verrückt, dass so ein kleines Gerät unser ständiger Begleiter ist. Man möchte ja fast meinen, es würde gar nicht mehr ohne gehen.
Viele von den anderen Passagieren sind am Handy oder am Laptop. Es gibt so viele Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Wir können gleichzeitig einen Film gucken, Musik hören und mit meinen Freunden und meiner Familie kommunizieren – auf mindestens vier verschiedenen Wegen.
Trotz der vielen Möglichkeiten möchte ich nur eine Sache machen. Nur schreiben. Mich nur auf eine Sache konzentrieren. Nicht auf das Handy gucken, keine E-Mails checken und keine Online-Shops durchforsten. Doch immer wieder greife ich nach meinem Handy und sehe die ungelesene Nachricht meiner Schwester, die ich gerade gar nicht beantworten möchte, weil ich mich ja eigentlich nur auf eine Sache konzentrieren will.
Die Technik nimmt uns viel Arbeit ab. Viele Dinge sind inzwischen mit zwei drei Klicks erledigt und wir haben Zeit für wichtige Sachen. Wichtige Sachen, wie sinnlos auf das Handy zu gucken.
Ich schaue auf meine Uhr. Zwei Stunden. Zwei Stunden, dann werde ich wieder in meinem geliebten Berlin sein. Es ist kurz vor acht und ich bin schon seit sechs Uhr unterwegs. Ich bin müde, aber ich kann nicht schlafen beziehungsweise wollte ich nicht schlafen. Zugfahrten versuche ich immer sinnvoll zu nutzen. Obwohl der Weg von einem Punkt zum anderen eigentlich keine ungenutzte Zeit ist. Ich fahre ja nicht sinnlos in der Gegend herum.
Während der Zug mich innerhalb von vier Stunden von Frankfurt am Main nach Berlin kutschiert, schreibe ich diesen Text, gucke zwischendurch aus dem Fenster und sehe die Welt rasend schnell an mir vorbeirauschen. Außerdem blicke ich ab und zu auf mein Handy. Mal ist der Empfang ganz gut, mal weniger. Es ist doch verrückt, dass so ein kleines Gerät unser ständiger Begleiter ist. Man möchte ja fast meinen, es würde gar nicht mehr ohne gehen.
Viele von den anderen Passagieren sind am Handy oder am Laptop. Es gibt so viele Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Wir können gleichzeitig einen Film gucken, Musik hören und mit meinen Freunden und meiner Familie kommunizieren – auf mindestens vier verschiedenen Wegen.
Trotz der vielen Möglichkeiten möchte ich nur eine Sache machen. Nur schreiben. Mich nur auf eine Sache konzentrieren. Nicht auf das Handy gucken, keine E-Mails checken und keine Online-Shops durchforsten. Doch immer wieder greife ich nach meinem Handy und sehe die ungelesene Nachricht meiner Schwester, die ich gerade gar nicht beantworten möchte, weil ich mich ja eigentlich nur auf eine Sache konzentrieren will.
Die Technik nimmt uns viel Arbeit ab. Viele Dinge sind inzwischen mit zwei drei Klicks erledigt und wir haben Zeit für wichtige Sachen. Wichtige Sachen, wie sinnlos auf das Handy zu gucken.
Wir Menschen
Jede einzelne Person ist ein Wassertropfen. Wir verbinden uns miteinander und dehnen uns aus.
Wir bilden einen See und der Wind bläst, sodass wir zu einem Fluss werden. Die Sonne geht unter, der Mond geht auf. Es regnet, es schneit und die Blätter fallen. Wir lassen uns den Fluss hinunter, bis zum Wasserfall, treiben. Dort werden wir fallen. Um uns herum ist nichts.
Wir können nichts sehen, nichts hören, nichts mit der Hand oder mit dem Herzen fühlen. Unser Fall ereignet sich vor unserem Aufstieg. Wie der Phönix, der aus seiner Asche zu neuem Leben erwacht. Ohne Schmerz, keine Erfüllung.
Das einzelne Leben erscheint so unbedeutend, weil die Gesamtheit aller gelebten Leben sich nicht in Worte fassen lässt. Die Gegenwärtige wird zum Vergangenen und das Zukünftige lässt Endgültigkeit nicht zu. Die Wolken ziehen vorbei, die Sonne scheint und die Blüten blühen.
Wir blicken zurück. Doch der Fluss fließt weiter; wir können ihn nicht aufhalten und wir würden ihn nicht aufhalten, selbst wenn wir könnten und dächten wir wollten.
Wir können uns treiben lassen und könnten den Moment einen Moment sein lassen.
Jede einzelne Person ist ein Wassertropfen. Wir verbinden uns miteinander und dehnen uns aus.
Wir bilden einen See und der Wind bläst, sodass wir zu einem Fluss werden. Die Sonne geht unter, der Mond geht auf. Es regnet, es schneit und die Blätter fallen. Wir lassen uns den Fluss hinunter, bis zum Wasserfall, treiben. Dort werden wir fallen. Um uns herum ist nichts.
Wir können nichts sehen, nichts hören, nichts mit der Hand oder mit dem Herzen fühlen. Unser Fall ereignet sich vor unserem Aufstieg. Wie der Phönix, der aus seiner Asche zu neuem Leben erwacht. Ohne Schmerz, keine Erfüllung.
Das einzelne Leben erscheint so unbedeutend, weil die Gesamtheit aller gelebten Leben sich nicht in Worte fassen lässt. Die Gegenwärtige wird zum Vergangenen und das Zukünftige lässt Endgültigkeit nicht zu. Die Wolken ziehen vorbei, die Sonne scheint und die Blüten blühen.
Wir blicken zurück. Doch der Fluss fließt weiter; wir können ihn nicht aufhalten und wir würden ihn nicht aufhalten, selbst wenn wir könnten und dächten wir wollten.
Wir können uns treiben lassen und könnten den Moment einen Moment sein lassen.
Die Sängerin
Der Wind fuhr durch ihr schütteres Haar und wehte fast den Hut von ihrem Kopf. Sie hielt den Hut fest und schritt eilig, nach vorne gebeugt die Straße entlang. Als sie zu Hause angekommen war, kramte sie mit ihrer knochigen und mit dunkelblauen Adern durchzogenen Hand den Schlüssel aus ihrer kleinen Perlenhandtasche. Schnell öffnete sie die Tür und huschte ins Innere. Die kleine Frau stapfte die Treppen hoch bis in den fünften Stock. Ihre Wohnung hatte ein Zimmer in dem sich auch die Küche befand. Das Bad war gerade so groß, dass sie sich darin drehen konnte.
Das Öfchen blieb heute aus. Die Frau behielt ihre Jacke an, zog nur die Stiefel aus und tauschte sie gegen Hausschuhe. Sie zündete den Gasherd an und kochte sich Tee in einer Kanne aus Zinn. Das einzige Fenster in ihrer Wohnung zeigte zur Straße hin. Von dort aus konnte sie die Menschen beobachten, die vorbeigingen.
Ein mal in der Woche ging sie ins Theater. Da sie kein Geld hatte, musste sie immer kurz vor Einlass versuchen die Restposten zu ergattern. Für einen solchen Abend zog sie ihr bestes Kleid an und tat einen Spritzer Parfüm auf. Sie liebte das Theater und immer wenn sie im Publikum saß und der Vorhang aufging, stellte sie sich vor, sie stände auf der Bühne und sänge eine Arie.
Die Frau steckte ihre kalten Hände in ihre Jackentaschen, da spürte sie einen Zettel in der linken Tasche. Sie holte ihn raus und entfaltete ihn. Es war ein Ausschreiben für ein Vorsingen im Theater. Sie las sich den Text immer wieder und wieder durch. Doch letzten Endes knüllte sie den Zettel zusammen und warf ihn in den Müll.
Als sie abends im Bett lag, bekam sie kein Auge zu. Sie konnte an nichts anderes als an das Vorsingen denken. Am nächsten Tag holte sie den Zettel wieder aus dem Mülleimer und glättete ihn. Sie nahm all ihren Mut zusammen und ging zu dem Vorsingen ins Theater.
Als es so weit war und die kleine Frau auf der Bühne stand, war sie sehr aufgeregt. Sie räusperte sich. Ihr Hals war rau und trocken. Ihre Stimme krächzte. Der Regisseur und seine Assistenten im Zuschauerraum tuschelten. Man brachte ihr ein Glas Wasser. Sie trank einen Schluck und stellte das Glas vor sich auf den Boden. Sie schloss die Augen und begann zu singen. Erst sehr leise, dann immer lauter. Ihre Stimme war viel klarer und stärker als man von ihrer Erscheinung ausgehend, vermutet hätte. Während sie sang, glänzten ihre Augen und ihre Wangen wurden rosig. Ihre Haltung wurde aufrecht und erhaben. Sie lächelte beim Singen und schloss die Augen so wie die großen Opernsänger es taten. Als der letzte Ton ihres Gesangs verstummte, klatschten der Regisseur und seine Assistenten. Der Spielleiter fragte sie, wie ihr Name sei. Die Frau bewegte ihren Mund und es schien, als hätte ihre Stimme sie wieder im Stich gelassen. Doch es war nicht der trockene Hals, der ihre die Stimme versagen ließ. Sie machte mit Gestikulation deutlich, dass sie nicht sprechen konnte. Die kleine Frau war stumm. Der Regisseur schüttelte den Kopf ungläubig: „Sie können nicht sprechen?“
Die Frau nickte. „Sie sind also die stumme Sängerin“, sagte er nachdenklich. Die stumme Frau lächelte unsicher und hob leicht die Schultern. „Sie singen wirklich ausgezeichnet“, er kratzte sich am Hinterkopf und grübelte, dann schüttelte er den Kopf. „Doch es tut mir leid. Ich kann ihnen die Rolle nicht geben. Sie müssen auch Text sprechen und nicht nur singen.“ Seine Assistenten nickten zustimmend. Die Frau senkte beschämt den Kopf. Der Regisseur sagte ihr, dass er auf sie zurückkommen würde, falls er eine Sängerin brauchte. Die Frau lächelte ihn an und es war so ehrlich und so glücklich. Ihr standen die Tränen in den Augen. Sie dankte ihm auf ihre Art und ohne Worte.
Mit einem Lächeln im Gesicht verließ die stumme Frau das Theater. Als sie raus ging wich die Farbe aus ihren Wangen. Ihre Haut wurde wieder grau, doch ihre Freude blieb. Sie setzte ihren Hut auf und ging nach Hause.
Die stumme Sängerin geriet in Vergessenheit. Niemand erinnerte sich mehr an sie und sie sang nie wieder vor Publikum. Die kleine Frau sang nur wenn sie zu Hause ihre Wäsche aufhing oder Staub wischte – und wenn du an ihrer Wohnung vorbeigingst, konntest du sie ganz leise hören. So leise, dass du nicht wusstest, ob du sie singen hörtest oder ob dir deine Ohren einen Streich spielten.
Der Wind fuhr durch ihr schütteres Haar und wehte fast den Hut von ihrem Kopf. Sie hielt den Hut fest und schritt eilig, nach vorne gebeugt die Straße entlang. Als sie zu Hause angekommen war, kramte sie mit ihrer knochigen und mit dunkelblauen Adern durchzogenen Hand den Schlüssel aus ihrer kleinen Perlenhandtasche. Schnell öffnete sie die Tür und huschte ins Innere. Die kleine Frau stapfte die Treppen hoch bis in den fünften Stock. Ihre Wohnung hatte ein Zimmer in dem sich auch die Küche befand. Das Bad war gerade so groß, dass sie sich darin drehen konnte.
Das Öfchen blieb heute aus. Die Frau behielt ihre Jacke an, zog nur die Stiefel aus und tauschte sie gegen Hausschuhe. Sie zündete den Gasherd an und kochte sich Tee in einer Kanne aus Zinn. Das einzige Fenster in ihrer Wohnung zeigte zur Straße hin. Von dort aus konnte sie die Menschen beobachten, die vorbeigingen.
Ein mal in der Woche ging sie ins Theater. Da sie kein Geld hatte, musste sie immer kurz vor Einlass versuchen die Restposten zu ergattern. Für einen solchen Abend zog sie ihr bestes Kleid an und tat einen Spritzer Parfüm auf. Sie liebte das Theater und immer wenn sie im Publikum saß und der Vorhang aufging, stellte sie sich vor, sie stände auf der Bühne und sänge eine Arie.
Die Frau steckte ihre kalten Hände in ihre Jackentaschen, da spürte sie einen Zettel in der linken Tasche. Sie holte ihn raus und entfaltete ihn. Es war ein Ausschreiben für ein Vorsingen im Theater. Sie las sich den Text immer wieder und wieder durch. Doch letzten Endes knüllte sie den Zettel zusammen und warf ihn in den Müll.
Als sie abends im Bett lag, bekam sie kein Auge zu. Sie konnte an nichts anderes als an das Vorsingen denken. Am nächsten Tag holte sie den Zettel wieder aus dem Mülleimer und glättete ihn. Sie nahm all ihren Mut zusammen und ging zu dem Vorsingen ins Theater.
Als es so weit war und die kleine Frau auf der Bühne stand, war sie sehr aufgeregt. Sie räusperte sich. Ihr Hals war rau und trocken. Ihre Stimme krächzte. Der Regisseur und seine Assistenten im Zuschauerraum tuschelten. Man brachte ihr ein Glas Wasser. Sie trank einen Schluck und stellte das Glas vor sich auf den Boden. Sie schloss die Augen und begann zu singen. Erst sehr leise, dann immer lauter. Ihre Stimme war viel klarer und stärker als man von ihrer Erscheinung ausgehend, vermutet hätte. Während sie sang, glänzten ihre Augen und ihre Wangen wurden rosig. Ihre Haltung wurde aufrecht und erhaben. Sie lächelte beim Singen und schloss die Augen so wie die großen Opernsänger es taten. Als der letzte Ton ihres Gesangs verstummte, klatschten der Regisseur und seine Assistenten. Der Spielleiter fragte sie, wie ihr Name sei. Die Frau bewegte ihren Mund und es schien, als hätte ihre Stimme sie wieder im Stich gelassen. Doch es war nicht der trockene Hals, der ihre die Stimme versagen ließ. Sie machte mit Gestikulation deutlich, dass sie nicht sprechen konnte. Die kleine Frau war stumm. Der Regisseur schüttelte den Kopf ungläubig: „Sie können nicht sprechen?“
Die Frau nickte. „Sie sind also die stumme Sängerin“, sagte er nachdenklich. Die stumme Frau lächelte unsicher und hob leicht die Schultern. „Sie singen wirklich ausgezeichnet“, er kratzte sich am Hinterkopf und grübelte, dann schüttelte er den Kopf. „Doch es tut mir leid. Ich kann ihnen die Rolle nicht geben. Sie müssen auch Text sprechen und nicht nur singen.“ Seine Assistenten nickten zustimmend. Die Frau senkte beschämt den Kopf. Der Regisseur sagte ihr, dass er auf sie zurückkommen würde, falls er eine Sängerin brauchte. Die Frau lächelte ihn an und es war so ehrlich und so glücklich. Ihr standen die Tränen in den Augen. Sie dankte ihm auf ihre Art und ohne Worte.
Mit einem Lächeln im Gesicht verließ die stumme Frau das Theater. Als sie raus ging wich die Farbe aus ihren Wangen. Ihre Haut wurde wieder grau, doch ihre Freude blieb. Sie setzte ihren Hut auf und ging nach Hause.
Die stumme Sängerin geriet in Vergessenheit. Niemand erinnerte sich mehr an sie und sie sang nie wieder vor Publikum. Die kleine Frau sang nur wenn sie zu Hause ihre Wäsche aufhing oder Staub wischte – und wenn du an ihrer Wohnung vorbeigingst, konntest du sie ganz leise hören. So leise, dass du nicht wusstest, ob du sie singen hörtest oder ob dir deine Ohren einen Streich spielten.
Innen und Außen
Jacob betrachtete Renée als sie vom Bett aufstand und Jacobs Hemd anzog: „Komm wieder zurück ins Bett.“
Renée lächelte: „Du weißt, wie gerne ich das machen würde, aber ich muss los. Ich hab in der ersten Stunde Mathe und ich darf auf keinen Fall zu spät kommen.“
Jacob wandte seinen Blick ab. Er mochte es nicht, wenn Renée von der Schule sprach.
Während Renée sich duschte, kochte Jacob Kaffee und klebte sich ein Nikotinpflaster auf den Arm.
Er setzte sich mit seiner Tasse an den Küchentisch und las in der Zeitung. Wenige Minuten später stand Renée angezogen und mit nassen Haaren im Türrahmen.
„Ich geh jetzt los“, sagte sie während sie sich ihre Schuhe anzog.
„Föhn dir bitte noch die Haare. Draußen ist es kalt.“
„Keine Zeit.“
Jacob seufzte und legte die Zeitung auf den Tisch. Er ging zu ihr und gab ihr einen Kuss. Sie lächelten sich verliebt an, dann verließ sie die Wohnung.
Jacob aß kein Frühstück. Früher hatte er immer Gewichtsprobleme gehabt, deshalb ließ er seit vielen Jahren das Frühstück aus. Eine ganze Zeit lang hatte er eine Zigarette zum Frühstück, doch auch die gewöhnte er sich nun ab – für Renée.
In der zweiten Etage der Maisonettewohnung war ein Atelier mit Dachfenstern. Dort malte er den ganzen Vormittag bis zum Nachmittag. Manchmal auch bis in den Abend oder bis in die Nacht.
Seine Wohnung war nicht sehr groß. Er hatte eine kleine Küche, ein noch viel kleineres Badezimmer, ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und sein Atelier.
Überall standen Bücher und an der Wand hingen Bilder, sowohl alte als auch moderne Kunst. Er selber malte Porträts von Menschen auf der ganzen Welt. Jacob war im Winter, wenn es ihm in Deutschland zu kalt war, auf Reisen und fotografierte verschiedene Menschen. Egal welches Geschlecht, welches Alter, ob streng religiös, konservativ oder alternativ.
Im Frühling, Sommer und Herbst malte er die Porträts mit Ölfarben auf Leinwand und änderte die ein oder andere Sache nach seinem Geschmack. Er konzentrierte sich auf eine Besonderheit – das konnte ein Lächeln, eine Zornesfalte oder Sommersprossen sein. Diese Eigenschaft stellte er in den Vordergrund.
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Jacob betrachtete Renée als sie vom Bett aufstand und Jacobs Hemd anzog: „Komm wieder zurück ins Bett.“
Renée lächelte: „Du weißt, wie gerne ich das machen würde, aber ich muss los. Ich hab in der ersten Stunde Mathe und ich darf auf keinen Fall zu spät kommen.“
Jacob wandte seinen Blick ab. Er mochte es nicht, wenn Renée von der Schule sprach.
Während Renée sich duschte, kochte Jacob Kaffee und klebte sich ein Nikotinpflaster auf den Arm.
Er setzte sich mit seiner Tasse an den Küchentisch und las in der Zeitung. Wenige Minuten später stand Renée angezogen und mit nassen Haaren im Türrahmen.
„Ich geh jetzt los“, sagte sie während sie sich ihre Schuhe anzog.
„Föhn dir bitte noch die Haare. Draußen ist es kalt.“
„Keine Zeit.“
Jacob seufzte und legte die Zeitung auf den Tisch. Er ging zu ihr und gab ihr einen Kuss. Sie lächelten sich verliebt an, dann verließ sie die Wohnung.
Jacob aß kein Frühstück. Früher hatte er immer Gewichtsprobleme gehabt, deshalb ließ er seit vielen Jahren das Frühstück aus. Eine ganze Zeit lang hatte er eine Zigarette zum Frühstück, doch auch die gewöhnte er sich nun ab – für Renée.
In der zweiten Etage der Maisonettewohnung war ein Atelier mit Dachfenstern. Dort malte er den ganzen Vormittag bis zum Nachmittag. Manchmal auch bis in den Abend oder bis in die Nacht.
Seine Wohnung war nicht sehr groß. Er hatte eine kleine Küche, ein noch viel kleineres Badezimmer, ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und sein Atelier.
Überall standen Bücher und an der Wand hingen Bilder, sowohl alte als auch moderne Kunst. Er selber malte Porträts von Menschen auf der ganzen Welt. Jacob war im Winter, wenn es ihm in Deutschland zu kalt war, auf Reisen und fotografierte verschiedene Menschen. Egal welches Geschlecht, welches Alter, ob streng religiös, konservativ oder alternativ.
Im Frühling, Sommer und Herbst malte er die Porträts mit Ölfarben auf Leinwand und änderte die ein oder andere Sache nach seinem Geschmack. Er konzentrierte sich auf eine Besonderheit – das konnte ein Lächeln, eine Zornesfalte oder Sommersprossen sein. Diese Eigenschaft stellte er in den Vordergrund.
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Der Gemüsehändler
Als gerade an Iwans Gemüsestand nichts los war, nahm er sein Buch, strich über den Einband und schlug es auf. Er begann zu lesen, doch nach wenigen Seiten wurde er von einer Kundin gestört.
„Sie lesen Effi Briest?,“ fragte eine junge Frau lächelnd und nahm ihre Sonnenbrille ab. Sie trug einen großen Strohhut und ein Sommerkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte.
„Ehm, äh ja,“ sagte Iwan, schlug das Buch zu und stand auf.
„Und gefällt es ihnen?“
„Ich, ich hab gerade erst angefangen... Bin mir noch nicht sicher.“
„Ich mag es sehr. Ich finde, es hat durchaus etwas Romantisches.“
„Ja, äh, das hat es wohl,“ sagte Iwan etwas verlegen.
„Lesen Sie gerne?“
„Jeden Sonntag,“ sagte Iwan, „Unter der Woche habe ich keine Zeit.“
Sein Gegenüber lächelte.
„Lesen Sie gerne?,“ beeilte sich Iwan hinzuzufügen.
„Ja, an meinen freien Tagen,“ sagte sie.
Iwan wollte sie gerne nach ihrem Namen fragen, doch er hatte Angst, es wäre unangebracht. Also fragte er sie nicht.
Die junge Frau kaufte einen Kilo Kartoffeln und 250 Gramm Möhren und erzählte, dass sie daraus heute einen Gratin machen würde. Dann verließ sie den Gemüsestand, und Iwan schaute ihr nach.
Den Sonntag darauf las Iwan Nachtzug nach Lissabon von Pascal Mercier. Es war ein dickes Buch. Dafür würde er bestimmt mehrere Sonntage brauchen.
Er hoffte, heute wieder die Frau vom letzten Mal zu sehen, doch sie kam nicht. Mehrmals stellte Iwan sich vor, sie würde an seinen Stand kommen und ihn auf das Buch ansprechen. Er überlegte sich, was er sagen könnte, damit er Eindruck hinterlassen würde.
Als er am Ende des Tages seinen Stand wieder abbaute, war er sehr enttäuscht. Wenn er doch wenigstens nach ihrem Namen gefragt hätte.
Den nächsten Sonntag war viel zu tun und er kam nicht dazu sein Buch weiterzulesen. Auch heute hoffte er die Frau, deren Name er nicht kannte, würde wieder an seinen Stand kommen. Sein Wunsch sollte sich erfüllen.
„Hallo, du,“ sagte sie zur Begrüßung.
Iwan lächelte über das ganze Gesicht. Er konnte gar nicht anders, weil er sich so sehr freute.
„Wie ist eigentlich dein Name?,“ fragte sie.
Er war froh, dass sie ihn nach dem Namen fragte, dann konnte er sie auch nach ihrem fragen.
„Ich heiße Iwan,“ sagte er freudestrahlend, „Wie heißt du?“
„Phoebe.“
„Das ist wirklich ein schöner Name,“ sagte Iwan.
„Danke,“ sagte Phoebe, „Was liest du heute?“
Iwans Blick huschte zu dem Buch, in dem er heute noch keine einzige Seite gelesen hatte.
„Nachtzug nach Lissabon.“
„Ah!,“ sagte Phoebe entzückt, „Das ist ein wirklich schönes Buch.“
Iwan hatte sich so viel zurechtgelegt, was er über das Buch sagen könnte, um Phoebe in ein Gespräch zu verwickeln. Doch nun, wo sie direkt vor ihm stand, hatte er alles vergessen. Er wollte ihr so gerne eine Stelle aus dem Buch vorlesen. Das kam ihm nun furchtbar lächerlich und kindisch vor. Also sagte er nichts.
Phoebe kaufte einen Salatkopf, Tomaten, Paprika und eine Gurke und erzählte, dass sie heute einen gemischten Salat machen würde. Dann verließ sie den Gemüsestand, und Iwan schaute ihr nach.
Iwan zehrte die ganze Woche von dem Glück, dass er verspürte, seitdem er Phoebe wiedergesehen hatte. Er nahm sich vor, wenn er sie das nächste Mal sah, sie auf einen Kaffee einzuladen oder sie wenigstens etwas länger in ein Gespräch zu verwickeln.
Am Sonntag war er gespannt wie ein Flitzebogen, doch das Schicksal war ihm nicht wohl gesonnen. Phoebe tauchte nicht auf. Iwan hatte wenig Kundschaft und machte schlechte Umsätze. Das einzig Gute war, dass er genug Zeit hatte sein Buch zu Ende zu lesen.
Die nächsten Wochen liefen die Geschäfte wieder etwas besser, aber Phoebe hatte er schon seit Jule Vernes “In achtzig Tagen um die Welt”, Mary Shelleys “Frankenstein” und Thomas Manns “Tonio Kröger” nicht mehr gesehen.Von Sonntag zu Sonntag wurde er melancholischer. Er stellte sich immer wieder vor, dass Phoebe ganz unverhofft doch noch auftauchen würde, aber das tat sie nicht. Selbst die Freude am Lesen verblasste. Er las innerhalb von vier Sonntagen Kleists “Der zerbrochene Krug” und das war wirklich kein dickes Buch. Iwan las manchmal nur wenige Zeilen und legte dann das Buch auf die Seite und verlor sich in seinen Gedanken an Phoebe.
Nach zwei Monaten sah er sie wieder. Iwan bediente gerade einen Kunden, da sah er sie auf seinen Stand zukommen. Sein Herz begann zu rasen. Heute musste er seine Chance nutzen! Wer weiß, wie lange er sie sonst wieder nicht sehen würde!
„Hallo, Iwan,“ sagte Phoebe, als dieser seinen Kunden zu Ende bedient hatte.
„Hallo,“ sagte er und wieder musste er lächeln wie ein kleiner Junge. Es ratterte in seinem Kopf. Er musste schnell etwas sagen, bevor sie wieder ging.
„Hab dich lang' nicht mehr gesehen,“ sagte er etwas unbeholfen.
„Jaah, das stimmt,“ sagte Phoebe, „Ich war mit meinem Freund im Urlaub.“
Iwan spürte, wie ihm das Herz in die Hose rutschte. Er versuchte, sein Lächeln aufrecht zu erhalten.
„Dein Freund?“
„Ja, wir kennen uns noch gar nicht lange. Nach zwei Wochen hat er mich gefragt, ob wir nicht zusammen für einen Monat nach Südamerika wollen. Ich fand es so aufregend, da habe ich ja gesagt. Verrückt, oder?“
„Ja, verrückt,“ sagte Iwan mit belegter Stimme.
Sein Lächeln war verschwunden. Er war enttäuscht und wusste, dass es seine eigene Schuld war. Er hätte sie auf eine Reise nach Südamerika einladen sollen. Iwan sagte nichts mehr.
Phoebe kaufte Zucchini, Tomate, Aubergine, Paprika und Lauchzwiebeln und erzählte, dass sie heute einen Gemüseauflauf machen würde. Dann verließ sie den Gemüsestand, und Iwan schaute ihr nach.
Als gerade an Iwans Gemüsestand nichts los war, nahm er sein Buch, strich über den Einband und schlug es auf. Er begann zu lesen, doch nach wenigen Seiten wurde er von einer Kundin gestört.
„Sie lesen Effi Briest?,“ fragte eine junge Frau lächelnd und nahm ihre Sonnenbrille ab. Sie trug einen großen Strohhut und ein Sommerkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte.
„Ehm, äh ja,“ sagte Iwan, schlug das Buch zu und stand auf.
„Und gefällt es ihnen?“
„Ich, ich hab gerade erst angefangen... Bin mir noch nicht sicher.“
„Ich mag es sehr. Ich finde, es hat durchaus etwas Romantisches.“
„Ja, äh, das hat es wohl,“ sagte Iwan etwas verlegen.
„Lesen Sie gerne?“
„Jeden Sonntag,“ sagte Iwan, „Unter der Woche habe ich keine Zeit.“
Sein Gegenüber lächelte.
„Lesen Sie gerne?,“ beeilte sich Iwan hinzuzufügen.
„Ja, an meinen freien Tagen,“ sagte sie.
Iwan wollte sie gerne nach ihrem Namen fragen, doch er hatte Angst, es wäre unangebracht. Also fragte er sie nicht.
Die junge Frau kaufte einen Kilo Kartoffeln und 250 Gramm Möhren und erzählte, dass sie daraus heute einen Gratin machen würde. Dann verließ sie den Gemüsestand, und Iwan schaute ihr nach.
Den Sonntag darauf las Iwan Nachtzug nach Lissabon von Pascal Mercier. Es war ein dickes Buch. Dafür würde er bestimmt mehrere Sonntage brauchen.
Er hoffte, heute wieder die Frau vom letzten Mal zu sehen, doch sie kam nicht. Mehrmals stellte Iwan sich vor, sie würde an seinen Stand kommen und ihn auf das Buch ansprechen. Er überlegte sich, was er sagen könnte, damit er Eindruck hinterlassen würde.
Als er am Ende des Tages seinen Stand wieder abbaute, war er sehr enttäuscht. Wenn er doch wenigstens nach ihrem Namen gefragt hätte.
Den nächsten Sonntag war viel zu tun und er kam nicht dazu sein Buch weiterzulesen. Auch heute hoffte er die Frau, deren Name er nicht kannte, würde wieder an seinen Stand kommen. Sein Wunsch sollte sich erfüllen.
„Hallo, du,“ sagte sie zur Begrüßung.
Iwan lächelte über das ganze Gesicht. Er konnte gar nicht anders, weil er sich so sehr freute.
„Wie ist eigentlich dein Name?,“ fragte sie.
Er war froh, dass sie ihn nach dem Namen fragte, dann konnte er sie auch nach ihrem fragen.
„Ich heiße Iwan,“ sagte er freudestrahlend, „Wie heißt du?“
„Phoebe.“
„Das ist wirklich ein schöner Name,“ sagte Iwan.
„Danke,“ sagte Phoebe, „Was liest du heute?“
Iwans Blick huschte zu dem Buch, in dem er heute noch keine einzige Seite gelesen hatte.
„Nachtzug nach Lissabon.“
„Ah!,“ sagte Phoebe entzückt, „Das ist ein wirklich schönes Buch.“
Iwan hatte sich so viel zurechtgelegt, was er über das Buch sagen könnte, um Phoebe in ein Gespräch zu verwickeln. Doch nun, wo sie direkt vor ihm stand, hatte er alles vergessen. Er wollte ihr so gerne eine Stelle aus dem Buch vorlesen. Das kam ihm nun furchtbar lächerlich und kindisch vor. Also sagte er nichts.
Phoebe kaufte einen Salatkopf, Tomaten, Paprika und eine Gurke und erzählte, dass sie heute einen gemischten Salat machen würde. Dann verließ sie den Gemüsestand, und Iwan schaute ihr nach.
Iwan zehrte die ganze Woche von dem Glück, dass er verspürte, seitdem er Phoebe wiedergesehen hatte. Er nahm sich vor, wenn er sie das nächste Mal sah, sie auf einen Kaffee einzuladen oder sie wenigstens etwas länger in ein Gespräch zu verwickeln.
Am Sonntag war er gespannt wie ein Flitzebogen, doch das Schicksal war ihm nicht wohl gesonnen. Phoebe tauchte nicht auf. Iwan hatte wenig Kundschaft und machte schlechte Umsätze. Das einzig Gute war, dass er genug Zeit hatte sein Buch zu Ende zu lesen.
Die nächsten Wochen liefen die Geschäfte wieder etwas besser, aber Phoebe hatte er schon seit Jule Vernes “In achtzig Tagen um die Welt”, Mary Shelleys “Frankenstein” und Thomas Manns “Tonio Kröger” nicht mehr gesehen.Von Sonntag zu Sonntag wurde er melancholischer. Er stellte sich immer wieder vor, dass Phoebe ganz unverhofft doch noch auftauchen würde, aber das tat sie nicht. Selbst die Freude am Lesen verblasste. Er las innerhalb von vier Sonntagen Kleists “Der zerbrochene Krug” und das war wirklich kein dickes Buch. Iwan las manchmal nur wenige Zeilen und legte dann das Buch auf die Seite und verlor sich in seinen Gedanken an Phoebe.
Nach zwei Monaten sah er sie wieder. Iwan bediente gerade einen Kunden, da sah er sie auf seinen Stand zukommen. Sein Herz begann zu rasen. Heute musste er seine Chance nutzen! Wer weiß, wie lange er sie sonst wieder nicht sehen würde!
„Hallo, Iwan,“ sagte Phoebe, als dieser seinen Kunden zu Ende bedient hatte.
„Hallo,“ sagte er und wieder musste er lächeln wie ein kleiner Junge. Es ratterte in seinem Kopf. Er musste schnell etwas sagen, bevor sie wieder ging.
„Hab dich lang' nicht mehr gesehen,“ sagte er etwas unbeholfen.
„Jaah, das stimmt,“ sagte Phoebe, „Ich war mit meinem Freund im Urlaub.“
Iwan spürte, wie ihm das Herz in die Hose rutschte. Er versuchte, sein Lächeln aufrecht zu erhalten.
„Dein Freund?“
„Ja, wir kennen uns noch gar nicht lange. Nach zwei Wochen hat er mich gefragt, ob wir nicht zusammen für einen Monat nach Südamerika wollen. Ich fand es so aufregend, da habe ich ja gesagt. Verrückt, oder?“
„Ja, verrückt,“ sagte Iwan mit belegter Stimme.
Sein Lächeln war verschwunden. Er war enttäuscht und wusste, dass es seine eigene Schuld war. Er hätte sie auf eine Reise nach Südamerika einladen sollen. Iwan sagte nichts mehr.
Phoebe kaufte Zucchini, Tomate, Aubergine, Paprika und Lauchzwiebeln und erzählte, dass sie heute einen Gemüseauflauf machen würde. Dann verließ sie den Gemüsestand, und Iwan schaute ihr nach.